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Sommer-Special

Von der Macht des Aberglauben

In seinem Debütroman „Der dunkle Fluss“ beschreibt der nigerianische Autor Chigozie Obioma die Geschichte einer Familie, der eine unfassbare persönliche Tragödie widerfährt. Der hochspannende Plot und die sprachgewaltige, metaphorische Art zu schreiben, ziehen den Leser in den Bann.
In Chigozie Obiomas Roman „Der dunkle Fluss“ wurde Ben und seinen Brüdern das Fischen zum Verhängnis. picture-alliance/dpa In Chigozie Obiomas Roman „Der dunkle Fluss“ wurde Ben und seinen Brüdern das Fischen zum Verhängnis.

Die Geschichte beginnt unspektakulär. Der neunjährige Erzähler Benjamin, genannt Ben, und seine Brüder langweilen sich, und sie kommen auf die Idee, im Fluss ihres Heimatortes Akure im Süden Nigerias zu fischen. Die Jungs erhoffen sich, mit dem Fischverkauf etwas Geld dazuzuverdienen.

Doch der Erzähler berichtet, dass es den Kindern streng verboten ist, sich dem Fluss Omi-Ala zu nähern, da er verflucht sei und Unglück bringe. Die Kinder, die großen Spaß am Fischen haben und sich stolz als „Fischer“ bezeichnen, kümmern sich nicht um diese Warnung. Nach drei Wochen erwischt sie jedoch eine Nachbarin und erzählt alles der Mutter, die sich um zwei weitere kleine Kinder kümmern muss und sich als Marktfrau verdingt.

Die Mutter ist sehr aufgebracht und droht, alles dem Vater zu erzählen, der seit einigen Wochen als Angestellter der Zen­tralbank von Nigeria ins hunderte Kilometer entfernte Yola versetzt wurde und die Familie nur an den Wochenenden besucht. Die vier Brüder haben große Angst vor dem Vater, einem strengen, gottesfürchtigen Mann, der seine Kinder bei Regelverstößen mit dem Stock züchtigt. Wie zu erwarten, ist der Vater außer sich, als er von der „barbarischen Tat“ hört, und verprügelt seine Kinder gnadenlos. Am härtesten schlägt er den ältesten, den 15-jährigen Ikenna.

Dieser Moment markiert den Beginn der „Metamorphose“ Ikennas, wie es der Erzähler nennt. Ikenna fühlt sich vom Vater ungerecht behandelt und verhält sich zunehmend abweisend gegenüber seinen Brüdern – vor allem gegenüber seinem bisher engsten Vertrauten, dem zwei Jahre jüngerem Boja.

Als Ikennas Verhalten immer aggressiver wird, drängt die Mutter darauf zu erfahren, was mit ihm los ist. Sie (und der Leser) erfährt, was wirklich passiert ist. Die Jungen trafen an ihrem letzten Tag am Omi-Ala auf den stadtbekannten Verrückten Abulu, der bei einem Autounfall den Verstand verlor und den alle wegen seiner Prophezeiungen fürchten. Abulu verfluchte Ikenna und sagte voraus, er werde von einem Fischer umgebracht.

Für Ikenna ist sofort klar, dass dieser Fischer sein Bruder Boja sein muss. Ab diesem Zeitpunkt schottet Ikenna sich zunehmend ab, will nichts mehr mit der Familie zu tun haben und sperrt Boja aus dem gemeinsamen Zimmer aus. Ikennas Verhalten wird für alle immer unerträglicher.

Es entspinnt sich eine Kettenreaktion an Ereignissen, die von einer Tragödie in die andere mündet. In dem Moment, an dem der Leser denkt, das Schlimmste sei passiert, ist das Buch noch nicht zu Ende, und Obioma gelingt es, den Klimax noch zu steigern. Die letzten Seiten lassen den Leser nicht mehr los. Er will endlich wissen, wie die Geschichte endet.

Neben der eigentlichen Story erfährt der Leser, wie die Menschen in Akure ticken, wo der Autor 1986 als eines von 12 Kindern geboren wurde. Die Handlung spielt Mitte der 1990er Jahre und wird im Rückblick erzählt. Die Familie des Erzählers ist sehr religiös und gehört einer der zahlreichen evangelikalen Kirchen an. Sie lebt in einem Haus mit mehreren Zimmern, ist sicher nicht arm, die Kinder gehen zur Schule und haben alles, was sie brauchen. Die Abwesenheit des Vaters und seine Kontrollfunktion bringen jedoch das Unheil ins Rollen.

Der christliche Glaube vermischt sich stark mit Aberglauben. Niemand zweifelt an den magischen Kräften des Verrückten Abulu. Auch Ikenna scheint der festen Überzeugung, dass Abulu ihn verflucht hat, und die damit einhergehende Angst treibt ihn in den Wahnsinn. Er vertraut seinem gesunden Menschenverstand oder den Worten seiner Brüder nicht mehr, die ihm versichern, ihn zu lieben und ihm nichts antun zu wollen. Die gemeinsame Vergangenheit zählt nicht mehr, und Ikenna vernichtet sogar wichtige Erinnerungsstücke, die die Einigkeit der Brüder symbolisieren.

Der Erzähler erfährt nie, wie Ikenna wirklich denkt und wie es in ihm aussieht. Nach dem Vorfall mit Abulu spricht er kaum mehr, er ist nicht fähig, seine Gedanken und Ängste zu artikulieren. Die Angebote der Mutter und Brüder, über alles zu reden, nimmt er nicht an. Diese Ratlosigkeit, die die Familie verzweifeln lässt, erfährt auch der Leser. Nach einem überraschenden und dramatischen Finale bleibt das Gefühl, dass alle Geschehnisse völlig sinnlos und unnötig sind.


Buch
Chigozie Obioma, 2015: Der dunkle Fluss, Aufbau Verlag, Berlin.