Armut
Hartes Leben in den Townships
Mehrere meiner Kolleginnen und Kollegen von loveLife sind HIV positiv. Eine Mitarbeiterin kam eines Morgens nicht ins Büro. Das ist nichts Außergewöhnliches angesichts der mangelnden Verlässlichkeit der Busse, die von den Townships ins Geschäftsviertel von Johannesburg fahren. Der einfache Anfahrtsweg beträgt für viele Menschen hier mehr als zwei Stunden. Oft stehen nicht genügend Busse zur Verfügung. Gegen Mittag kommt dann ein Anruf, die Kollegin sei auf dem Weg zur Arbeit im Township Orange Farm überfallen und vergewaltigt worden. Von denselben fünf Jungs wie schon drei Jahren zuvor.
Monate später ist die Kollegin zurück im Büro. Sie hat jetzt die zehn Krankheitstage, die in Südafrika pro Jahr als Fehlzeit im Büro erlaubt sind, ausgereizt. Ihr Gehalt wird gekürzt sobald sie das nächste Mal – sei es auch krankheitsbedingt – fehlt. Und sie trägt das T-Shirt „HIV positiv“. Einer der Vergewaltiger muss die Krankheit übertragen haben. Die dunklen Ecken in den Townships aufzuhellen, das wäre ein erster, kleiner Schritt für besseren Schutz vor Überfällen, sagt sie. Insbesondere die Wege zur Bahn und zu den Bussen müssten sicher sein.
In den Townships, in denen auch mein Freund Nkosana und viele weitere Kollegen leben, ist die HIV-Ansteckungsrate besonders hoch. Deshalb werden dort von loveLife Jugendprogramme und Jugendzentren betrieben, in denen Aufklärungsarbeit geleistet wird. Jugendliche können dort auch etwas Ablenkung vom oft tristen Alltag finden und sich einen eigenen Lebensinhalt aufbauen. Eines der loveLife-Programme fördert Kunst und Kultur. Genau dort hat Nkosana – der sich selbst als Künstler „Skyto“ nennt – vor Jahren sein erstes Gedicht verfasst. Inzwischen hat er nebenberuflich sein eigenes „Skyto Poetry Movement“ aufgebaut.
Wir sind von Nkosana zu einer Poetry-Slam-Session nach Orange Farm eingeladen und wollen natürlich dort hin – ein Township weit südlicher als Johannesburgs berühmtestes Township Soweto. In Soweto – das ist die Abkürzung für South-Western-Township – lebte Nelson Mandela in derselben Straße wie Bishop Tutu. Das ist die einzige Straße der Welt, in der gleich zwei Friedensnobelpreisträger wohnten. In Orange Farm sind wir um zwei Uhr nachmittags im alten Community Center verabredet. Es ist auf keiner Landkarte verzeichnet, da hilft auch Google Maps nicht weiter. Als ich Nkosana eine Straßenkarte vorlege, ernte ich einen hilflosen Blick. Selbst die Chefs in meiner Organisation haben kaum gelernt, eine Landkarte zu lesen. Deshalb habe ich auch niemals eine genaue Antwort bekommen, als ich nach den genauen Koordinaten unserer 20 im Land verteilten Jugendzentren fragte.
Nkosana kann mir nur sagen: Das Community Center liegt zwei Straßen vor dem Pick&Pay-Supermarkt, auf der linken Seite. Schilder gibt es auch keine. Ein Kollege berichtete, dass es früher mal ein Schild zu einem Jugendzentrum gegeben hat, das aber in der afrikanischen Hitze ganz schnell ausgebleicht ist. Wir fahren mit dem eigenen Auto frühzeitig los. Nach längerer Suche und mehreren Fragen an freundlich grinsende Passanten finden wir tatsächlich das Community Center – und sind bei weitem die Ersten. Wir spazieren noch ein wenig in der näheren Umgebung herum. An den Verkehrsschildern kleben Werbezettel für spirituelle Heiler, die sich hier in Garagen eingemietet haben. Friseure auf der Straße wollen uns gleich die Haare schneiden. Wir kommen ins Gespräch, auch über die gefährlichen Tiere hier im südafrikanischen Hochland. Aber einen Leoparden tatsächlich gesehen hat hier noch niemand. Auch Eulen gibt es hier nicht. In anderen Regionen des Landes werden diese in speziellen Projekten für Townships gezüchtet. Die Eulen fressen die Mäuse und Ratten.
Die anderen anreisenden Jugendlichen wissen ebenfalls nicht genau, wo es hingeht. Ein paar kommen sogar extra aus Pretoria, einer aus dem entfernten Rustenburg. Sie verlaufen und verfahren sich, sie müssen sich durchfragen und kommen natürlich viel zu spät. Los geht es dann gegen fünf Uhr, es wird schon dunkel. Und vor Dunkelheit sind wir als Entwicklungshelfer immer gewarnt worden, da sei es zu gefährlich, hier in Südafrika auf der Straße zu sein. Für die Jugendlichen ist es das auch, aber es wird bereits zwischen 17.30 Uhr und 19 Uhr dunkel. Und selbst wenn sie vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause sein wollten, sind sie auf unregelmäßig fahrende Kleinbusse, die hier „Taxi“ heißen, angewiesen. In einigen Etappen müssen sie von Orange Farm zurück in ihre Wohnung fahren. Dann ist es bereits Nacht.
Mehr als 40 Poetry-Interessierte sind versammelt, und sie beginnen, ihre Poems vorzutragen. Alles auswendig, alle sind großartige Performer, die Jungs wie auch die jungen Frauen, die hier sogar in der Überzahl sind. In den Texten geht es um Liebe und Schmerz, aber auch um den Schlamm, der bei Regen den Township zu einer Insel macht, die man nicht verlassen kann. Teilweise gehen die Vorträge in Hip-Hop-Gesänge und Beat-Boxing über. Wir hören auch Gedichte in Sprachen, die wir nicht verstehen. In Südafrika gibt es elf offizielle Landessprachen. In Johannesburg und Umgebung ist Englisch zumindest als Zweitsprache sehr verbreitet. Viele der Vortragenden haben die gesamte Zeit über ihren Rucksack angeschnallt, sogar auf der Bühne. Nkosana erklärt mir: „Hier im Township musst du immer bereit sein zu fliehen, von einem Moment auf den anderen.“ Es besteht immer die Gefahr, von Kriminellen überfallen zu werden.
Einige Wochen später lernen wir in einem Café in Downtown Johannesburg einen jungen weißen Mann kennen, der enthusiastisch davon erzählt, wie er fast in das berühmte, aber sehr gefährliche Ponte-Hochhaus hineingelangte. Der 1975 eröffnete Tower sollte zunächst ein Luxus-Wolkenkratzer für reiche Weiße sein. Doch als die Regierung den Geldhahn für den „grauen“ Stadtteil Hillbrow, in dem Schwarze und Weiße friedlich miteinander lebten, zudrehte, begann der Verfall. Ab Mitte der 90er-Jahre wurde Ponte zu einem Zentrum der Kriminalität. Banden zogen ein und übernahmen die Regie. Seit einigen Jahren wird der Wohnturm aber wieder befriedet, und scharfe Sicherheitsvorkehrungen sorgen dafür, dass nur Bewohner reinkommen. Wir konnten das Ponte nie betreten. Stattdessen waren wir oft im Carlton Centre in Downtown, dem höchsten Wolkenkratzer des Landes. Als Weiße ohne Begleitung wurden wir dort kritisch beäugt. Ein einheimischer Guide, der dort eines Tages mit zwei Japanerinnen auftauchte, deutete auf uns und sagte: „Seht ihr, so gefährlich kann es hier gar nicht sein. Das sind bestimmt Deutsche, die trauen sich sogar allein hierher.“ Wenn ich von diesen Ausflügen nach Downtown berichtete, wurde ich oft von meinen schwarzen Kolleginnen gewarnt: Dort sei es viel zu gefährlich. Sie selbst waren noch nie in Downtown Johannesburg. Überfälle sind allerdings keine Seltenheit. Drei Freunde wurden im Delta Park beim Radfahren überfallen. Sie mussten dann ohne Handy und Rad nach Hause laufen. Eine andere Freundin, blond, war so dreist und hat bei einem Überfall mit dem Dieb verhandelt, der ihr am Ende tatsächlich das Handy ließ.
Die sicheren Gegenden sind die Shopping Malls und die Gated Communities – und selbst da kommt es immer mal wieder zu Überfällen. Trotzdem ist für Nkosana die Shopping Mall, natürlich besonders die im reichen Bezirk Sandton, der Inbegriff des Fortschritts und der Sicherheit. Dort wird auch unumwunden mit dem Slogan „for the fortunate few“ geworben.
An Verkehrsampeln bei Nacht bei Rot stehen zu bleiben wird teilweise sogar von Polizisten als „Dummheit“ bezeichnet, die Hinweisschilder „Hier ist ein neuralgischer Punkt bezüglich Kriminalität“ stechen immer wieder ins Auge. Sogar an Autobahnauffahrten gibt der südafrikanische Staat mit solchen Schildern seine Machtlosigkeit preis. „Smash and grab“ heißt die Gefahr: Diebe schlagen die Scheibe ein und greifen nach dem, was sie bekommen können. Aufkleber auf Scheiben, die diese dann vor dem Zerbröseln durch einen Schlag schützen sollen, sind in Südafrika ein gutes Geschäftsfeld. Diese Aufkleber führen dann aber auch dazu, dass die Diebe einfach noch dickeres Einschlags-Werkzeug verwenden, bis hin zu riesigen Steinen.
Am Tag der Müllabfuhr ist ab dem frühen Morgen einiges los auf den Straßen, jede einzelne Mülltüte wird von Armen nach Verwertbarem durchsucht. Das kann bereits als eine erste Stufe der Mülltrennung angesehen werden. Als die Müllabfuhr für mehrere Wochen streikte, klingelte es bei Freunden an der Haustüre. Der reguläre Müllmann bot an, den durch den Streik liegenbleibenden Müll für „nur“ 50 Rand – umgerechnet drei Euro – „privat“ zu entsorgen. Dies ist symptomatisch für viele infrastrukturelle Probleme in Südafrika.
Norbert Herrmann war zwei Jahre als Entwicklungshelfer in Johannesburg in Südafrika bei der Organisation loveLife tätig.
norberthe@gmail.com
Buch und Tipp
Herrmann, N., und Gömöri, E., 2015: Black and White | Schwarz auf Weiß – Erfahrungen aus Südafrika.
Poetry aus dem Township Orange Farm:
skytoradio.blogspot.de