Begriffsklärung

Hilfe zur Selbsthilfe

Ob staatlich, privat oder kirchlich, ob Kinderpatenschafts-, Nothilfe- oder Entwicklungsorganisation: „Hilfe zur Selbsthilfe“ nennen viele Institutionen als Leitprinzip. Der Begriff ist trotz inflationärer Verwendung bei Spendern und Steuerzahlern populär – man hat eine Vorstellung davon, was gemeint ist, und stimmt dem zu. Ob aber auch alle, die den Begriff im Munde oder auf ihrer Website führen, wirklich eine klare Vorstellung davon haben, was Selbsthilfe bedeutet, steht zu bezweifeln.


[ Von Annette Benad und Uli Post ]

Kaum eine entwicklungspolitische Institution macht sich die Mühe, das angeblich zentrale Prinzip „Hilfe zur Selbsthilfe“ präzise zu definieren. Manche verwechseln Selbsthilfe mit „Partizipation“, andere mit „ownership“. Beides trifft es aber nicht. Der Verdacht liegt nah, der Slogan solle nur dem breiten Publikum gefallen.

Jeder Praktiker der Entwicklungspolitik weiß, dass tragfähiger gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Fortschritt nur dort gelingt, wo Menschen ihn zu ihrer Sache machen, wo sie selbst ihn wollen und vorantreiben. Es reicht nicht, dass Geber wollen, dass die Zielgruppe ihn will – getreu dem Motto „We decide, you own“. Entwicklung kann nicht importiert werden wie Coca-Cola oder Traktoren.

Nähert man sich dem Begriff „Selbsthilfe“, stößt man schnell auf das von Mao eingeführte Bild von den Fischen und der Angel. Es führt aber nicht weiter, wenn – um im Bild zu bleiben – es keine Fische mehr gibt oder das Angeln verboten ist. Ebenso wenig hilft das liberale Credo „Jeder ist seines Glückes Schmied“. Sicherlich enthält es ein Körnchen Wahrheit, denn jeder Mensch ist ein handelndes Subjekt. Aber nicht jeder kann, darf und will schmieden – und über das Arbeitsmaterial verfügen auch nicht alle.


Nötige Freiheiten

Das Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe beruht also auf der Annahme, dass Menschen das Grundbedürfnis sowie und die Fähigkeit besitzen, ihre Lebenslage und ihr Umfeld zu verbessern. Das entspricht dem Menschenbild, auf dem das vom indischen Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen geprägte Entwicklungsverständnis beruht. Sen definiert Entwicklung als Prozess der Erweiterung von Freiheiten: Nur wenn Menschen angemessene soziale Chancen eingeräumt werden, sind sie in der Lage, ihr Schicksal erfolgreich zu gestalten. Armut ist demnach ein Mangel an Verwirklichungschancen aufgrund von politischen, sozialen und ökonomischen Einschränkungen.

Weil es um Grundrechte und Grundfreiheiten geht, wäre es zu kurz gegriffen, die Wahl des Selbsthilfe-Ansatzes nur instrumentell zu begründen, wie das früher üblich war. Das Ziel geht aber über bloße Effizienzsteigerung durch die – wie es das deutsche Entwicklungsministerium 1977 formulierte – „Freisetzung menschlicher und materieller Leistungsreserven“ weit hinaus.

In diesem Sinne versteht die Welthungerhilfe unter „Selbsthilfe“ das Bestreben, das eigene Dasein und das Lebensumfeld zu gestalten. Interventionen Externer können Menschen dabei unterstützen – etwa durch Befähigung oder Vorbild. Selbsthilfe setzt aber immer Eigeninitiative, Eigenbeiträge und Eigenverantwortung voraus.

Voraussetzungen für Selbsthilfe sind
– ein geeigneter politischer und ökonomischer Rahmen (Eigeninitiative und die Übernahme von Verantwortung müssen erlaubt und sogar gewollt sein),
– Verfügbarkeit und Kontrolle über Ressourcen (ohne ein Mindestmaß an Arbeitskraft, Kapital und Produktionsmitteln kann nichts gelingen),
– Fähigkeiten und Kenntnisse (von technischer Kompetenz über das Verstehen von Rechten und Pflichten bis hin zur Artikulation von Interessen und deren Durchsetzung in gesellschaftlichen Prozessen) sowie
– Bewusstsein und Motivation (Selbstwertgefühl, Respekt, Status und Würde).

Externe Intervention kann auf alle genannten Faktoren einwirken. Der zwischen-staatliche politische Dialog sowie regierungsunabhängige Lobby- und Advocacy-Arbeit haben Einfluss auf die Rahmenbedingungen. Kapital kann durch Kleinkredite verfügbar gemacht und Frauen und Minderheiten können bei der Durchsetzung von Rechten unterstützt werden. Fähigkeiten und Kenntnisse lassen sich vermitteln. Geeignete Maßnahmen können auch auf mehreren Ebenen wirken – etwa wenn Spar- und Kreditgemeinschaften junger Frauen nicht nur einen Kapitalstock schaffen, sondern auch das Selbstwertgefühl, Ansehen und die Organisationsfähigkeit der Mitglieder steigern. Ähnliches gilt für die juristische oder anderweitige Unterstützung von Landlosen, die ein Stück Land besetzt halten.

Entscheidend ist in solchen Fällen nicht so sehr die Maßnahme selbst, sondern die Art und Weise ihrer Durchführung. Echte Förderung von Selbsthilfe knüpft an vorhandene Initiativen der Bevölkerung und bestehende Formen der Selbstorganisation an. Das Prinzip der Subsidiarität gilt immer: Wo Eigenanstrengungen möglich sind, darf Hilfe sie nicht ersetzen.

Entsprechend stimmt auch: Wo der Staat oder andere Institutionen Leistungen besser und effizienter erbringen können als Selbsthilfegruppen, müssen diese Institutionen gefordert und nicht neue Servicestrukturen aufgebaut werden. Ausnahmen sind möglich, wenn es zwingende Gründe gibt, lokale oder nationale Behörden zu umgehen („bypassing“) – beispielsweise weil zwischen Beamten und Bevölkerungsgruppen ernste Interessenkonflikte herrschen.
Der Selbsthilfeansatz hängt indessen nicht nur vom politischen Freiraum für Basisorganisationen und andere unabhängige Verbände ab. Er benötigt auch ein Mindestmaß an verantwortlichem Regierungs- und Behördenhandeln. Weil Selbsthilfe­initiativen nicht staatliche Funktionen übernehmen können, bleiben ihr Aktionsradius und ihre Erfolgsaussichten in Gegenden mit fehlenden oder zerfallenden staatlichen Strukturen begrenzt.


Nehmermentalität verhindern

Jede Strategie der Hilfe zur Selbsthilfe muss von Anfang an benennen, wie und wann sich die Förderinstitution zurückzieht. Allen Beteiligten sollte stets klar sein, bei wem die Verantwortung letztlich ruht. Ohnehin kann der Selbsthilfewillen von Menschen und Regierungen durch Überförderung geschwächt werden. Auch wenn Hilfe unabhängig von der Wirkung geleistet wird, kann eine Nehmermentalität entstehen: Geld fließt, ohne dass dafür etwas getan werden muss.

Inkohärente Geberpraktiken können solche Probleme schaffen – wenn etwa Geber A Selbsthilfe und Eigenverantwortung betont und die pünktliche Rückzahlung von Krediten erwartet, während Geber B das lockerer sieht, weil er Hilfe nicht an Konditionen binden will. Besonders kritisch ist nach Notfallsituationen der Übergang von der freien Vergabe der Hilfsgüter zur Forderung eigener Beiträge.

Wer sich ernsthaft am Prinzip der Selbsthilfe orientiert, kann auch nicht auf die Arbeit mit Individuen bauen. Geeignete Partner sind vielmehr Gruppen, Organisationen und Netzwerke, die einerseits Notleidenden unmittelbar Beistand leisten können, andererseits aber auch daran arbeiten, die Ursachen von Armut zu beheben. Diese Akteure müssen befähigt werden, sich in der lokalen, regionalen und nationalen Politik zu artikulieren und durchzusetzen.

Deshalb führt die Welthungerhilfe gemeinsam mit FIAN International ein Projekt durch, um zivilgesellschaftlichen Organistationen in ihrer Lobbyarbeit die Nutzung der Freiwilligen Leitlinien zum Menschenrecht auf Nahrung zu ermöglichen. Auf der Grundlage dieser internationalen Leitlinien wurde ein Monitoring-Instrument zur Beurteilung staatlichen Handelns entwickelt und in vier Pilotländern (Indien, Uganda, Bolivien und Kolumbien) mit lokalen nichtstaatlichen Verbänden analysiert, erprobt und verbessert. Anschließend berieten Welthungerhilfe und FIAN die Partner dabei, wie sie Schattenberichte über das Staatshandeln und die Erfüllung des Menschenrechts auf Nahrung erstellen können. Ferner helfen sie, solche Dokumente den zuständigen Gremien bei den Vereinten Nationen und der FAO vorzulegen.


Humanitärer Einsatz

Auch in der humanitären Hilfe spielt der Selbsthilfegedanke eine zentrale Rolle. In aller Regel helfen sich die von Natur- oder anderen Katastrophen betroffenen Menschen zunächst gegenseitig, wobei sie häufig auf lokale Netzwerke zurückgreifen. Die Erfahrungen nach dem Tsunami im Indischen Ozean vor drei Jahren haben dies abermals bestätigt. Hilfsorganisationen können auf solche Prozesse und Strukturen aufbauen, dürfen sie aber nicht behindern. In jedem Fall müssen sie derlei zur Kenntnis nehmen (was aber im Tsunami-Kontext leider nicht immer geschah).

Hilfe zur Selbsthilfe unterliegt jedoch nicht dem Neutralitätsprinzip der humanitären Hilfe. Wer will, dass Menschen ihre Interessen selbst in die Hand nehmen, darf den Organisationen, mit denen sie dies tun, nicht aus dem Weg gehen.

Sicherlich ist nicht jede Partnerorganisation, die sich beispielsweise auf Res­sourcen schonende Landwirtschaft spezialisiert hat, automatisch ein guter Katastrophenhelfer. Aber sie kennt die lokalen Überlebensstrategien (eine wichtige Form der Selbsthilfe) gewiss besser als die ausländischen Helfer. Deshalb ist sie für die Überwindung akuter Notlagen wichtig.

Das LRRD-Konzept (Linking Relief, Rehabilitation and Development) verbindet die Not- oder Soforthilfe konzeptionell mit der an Selbsthilfe orientierten Entwicklungsarbeit. Erfolg hängt aber davon ab, dass externe Unterstützung von Beginn an kompatibel ist mit den Überlebensstrategien der Betroffenen und ihren Versuchen, ihre Lebensgrundlage aus eigener Kraft zurückzugewinnen.


Fazit

Selbstverständlich gibt es in Kriegen oder Katastrophen Situationen, in denen Selbsthilfe an ihre Grenzen stößt. Das galt zum Beispiel angesichts des schieren Ausmaßes für den Tsunami. Es trifft auch dort zu, wo – wie im Kongo – jahrelang mörderischer Krieg tobt. In solchen Fällen sind Menschen vielfach nicht mehr zu eigenen Initiativen und Anstrengungen in der Lage. Selbstverständlich darf auch die Fähigkeit von Kindern oder Kranken zur Selbsthilfe nicht überschätzt werden.

Sicherlich garantiert auch nicht jede Aktivität einer Basisgruppe gleich erfolgreiche Selbsthilfe. Unabhängige Organisationen sind Teil ihrer Gesellschaft und unterliegen deren Regeln und Traditionen. Kulturelle oder religiöse Normen erschweren mitunter wirksame Selbsthilfe. Das bedeutet aber nicht, dass Hilfe über die Köpfe der Menschen hinweg erfolgreich sein könnte. Ein „interventionistisches Paradigma“ oder der rasch um sich greifende neue Assistenzialismus bieten keinen Ersatz für Selbsthilfe.

In jüngster Zeit steigen nicht nur die Mittel für die offizielle Entwicklungshilfe (ODA), auch die Kritik an der Entwicklungspolitik nimmt zu. Staatliche Durchführungsorganisationen und nichtstaatliche Hilfswerke stehen unter Legitimationsdruck. Sie tun deshalb gut daran, die Wirksamkeit ihres Engagements zu belegen. Gelungene Unterstützung der Selbsthilfe­potenziale in den Entwicklungsländern ist dabei sicherlich der überzeugendste Nachweis.