Justizielles Erstarken
[ Von Baseer Naveed ]
Das Vorgehen des Militärs gegen Iftikhar Chaudhry, den Obersten Richter Pakistans, hat eine beispiellose politische Krise ausgelöst. In der Vergangenheit waren Armee und Judikative immer enge Freunde, vereint darin, die demokratischen Hoffnungen des Volkes zu untergraben. Die Richter verteidigten stets die Militärs, nicht das Gesetz. Nur ein einziges Mal nannte das Oberste Gericht einen Militärdiktator „Usurpator“ – das war 1971, ein Jahr nachdem dieser gestorben war und es nicht mehr hören konnte.
Pakistans höhere Gerichtsbarkeit war zu keiner Zeit unabhängig. Zudem sind die Gerichte von jeher stark überlastet. Heute sind allein am Obersten Gerichtshof mehr als 20 000 Fälle anhängig. Üblicherweise entscheiden die unteren Instanzen ihre Fälle erst nach fünf bis sechs Jahren, Revisionen können sich bis zu 20 Jahre hinziehen. Zudem herrscht in Pakistan ein problematisches duales Rechtssystem mit säkularen und islamischen Gerichten. Bei Mord, Vergewaltigung und anderen schrecklichen Verbrechen fällen die Scharia-Gerichte häufig Urteile, die die weltlichen Gerichte nur schwer wieder aufheben können.
Lange Zeit war Pakistans weltliche Gerichtsbarkeit leblos und ohne jede Bedeutung. Sie hatte so wenig Macht, dass die Militärführer nicht einen Gedanken an sie verschwendeten, wenn sie andere Institutionen zurechtstutzten. Die juristische „Doctrine of Necessity“ erlaubte es den nicht gewählten Machthabern, zu machen, was sie wollten (siehe unten).
Weder Armee noch Verwaltung fühlten sich jemals an die nationale Verfassung oder andere Gesetze gebunden. Richter, die sich den Entscheidungen des Militärs oder der Verwaltung zu widersetzen wagten, wurden schnell versetzt oder verloren ihren Posten ganz. Oft wurden ihre Familien bedroht.
Heute scheint diese Form der Einschüchterung nicht mehr zu wirken. In Pakistan ist eine breite Volksbewegung für eine unabhängige Justiz und die Durchsetzung von Recht und Gesetz entstanden. Die Lage ist gespannt, und es ist unsicher, welche Kräfte sich durchsetzen werden. Der Staat schürt Gewalt. Allein am 12. Mai zum Beispiel wurden in Karatschi 51 Menschen getötet, als Polizei, Armee und die lokalen Behörden gemeinsam eine Demonstration verhinderten. Die Volksbewegung machte Druck, nachdem Präsident Pervez Musharraf, Chef der Militärregierung seit Oktober 1999, im März den Obersten Richter Chaudhry seines Amtes enthob. Der Richter wurde ins Army House zitiert, grob behandelt und für mehrere Stunden festgehalten. Ein Interimsnachfolger wurde vereidigt.
Schon früher waren Richter von Armeeführern persönlich gedemütigt worden, aber dieses Mal wurde das Vorgehen als Affront gegen den juristischen Berufsstand insgesamt empfunden. Schnell kam eine Bewegung von Juristen ins Rollen, die die Gerichte boykottierten und Demonstrationen organisierten. Verschiedene politische Parteien und zivilgesellschaftliche Organisationen unterstützen diese Bewegung seither.
Selbstbewusste Juristen
Tatsächlich war Chaudhry ein ungewöhnlicher Vorsitzender Richter, der einige bemerkenswerte Entscheidungen getroffen hat. Beispielsweise richtete er eine Abteilung für Menschenrechte am Obersten Gericht ein. Während seiner Amtszeit entschied das Gericht gegen hochrangige Offiziere in Fällen, in denen es um die Privatisierung staatlicher Unternehmen oder um Land ging, das sich zivile oder militärische Behörden aneignen wollten. Die höheren Instanzen des Landes begannen dem indischen Beispiel zu folgen und Prozesse im öffentlichen Interesse einzuleiten (Baxi, 2004). Sie wurden von sich aus tätig, wenn jemand sie darauf aufmerksam machte, dass staatliche Behörden das Gesetz brachen.
Vor allem aber begann das Oberste Gericht sich Fällen von „vermissten“ Personen anzunehmen – von Leuten also, die festgenommen worden waren, über deren Verbleib die Strafverfolgungsbehörden aber nichts wissen wollten. Insbesondere die Geheimdienste waren nicht begeistert über derlei Eingriffe durch die Justiz.
Pakistans Rechtsanwälte dagegen begrüßten den neuen Trend – vor allem seit einer Entscheidung des Obersten Gerichts, die sie selbst direkt betraf. Das Gericht hatte entschieden, Muneer Malik sei ordnungsgemäß zum Präsidenten der Supreme Bar Association gewählt worden, eines einflussreichen Juristenverbands. Malik Quayyum, ein Richter im Ruhestand mit engen Verbindungen zu Musharraf, hatte mit Hilfe von Regierungsanwälten nach der Abstimmung diese Position unrechtmäßig an sich gerissen. Das Oberste Gericht vereitelte diesen versuchten Putsch innerhalb des Juristenverbandes – und sandte der Regierung damit eine deutliche Botschaft justizieller Unabhängigkeit.
Die Regierung ist derart selbstsichere, unabhängige Handlungen nicht gewöhnt. Als General Musharraf 1999 die Macht übernahm, dämmte er Anflüge juristischer Opposition ziemlich schnell ein. Im Januar 2000 beispielsweise setzte er die pakistanische Verfassung praktisch außer Kraft und verlangte von sämtlichen Richtern des Obersten Gerichts einen Eid auf eine neue „Provisional Constitution Order“ (PCO). Viele Richter weigerten sich, und so konnte Musharraf einen Vorsitzenden Richter seiner Wahl ernennen. Nach diesen Manövern billigte das Oberste Gericht nicht nur den Militärputsch, es räumte Musharraf sogar die Macht ein, die Verfassung zu ändern – obwohl die Militärführung gar nicht danach gefragt hatte.
In Pakistan ernennt der Präsident auf Empfehlung des Obersten Justizrates (Supreme Judicial Council) die Richter der höchsten Instanzen. Richter werden daher nach politischen Erwägungen ernannt und haben sich in der Vergangenheit noch nie gegen die Exekutive gestellt.
Aber schon seit geraumer Zeit gärt es in den Reihen der Juristen. In der neuen Richter-Generation, die nach der Bewegung von 1983 gegen General Zia ul-Haq ins Amt kam, herrschte Aufbruchstimmung. Viele hatten sich direkt oder indirekt an der Bewegung zur Wiederherstellung der Demokratie im Jahr 1983 beteiligt. Die meisten Richter dieser Generation waren nicht einverstanden mit der Rolle der Justiz in den Zeiten des Kriegsrechts. Sie hofften, in einem demokratischen Rahmen würden die politischen Parteien die Unabhängigkeit und die Kontrollfunktion der Judikative unterstützen. In den 1990er Jahren, als Pakistan von zivilen Regierungen geführt wurde, versuchte die Justiz, ihre verfassungsmäßige Rolle auszufüllen. Aber die Regierungsparteien hemmten sie auf ähnliche Weise wie zuvor die autokratischen Machthaber.
Einige meinen, es wäre nicht zu einem solchen Aufschrei gekommen, wäre General Musharraf so wie frühere Militärregierungschefs subtiler mit dem Obersten Gericht umgegangen. Aber diese Annahme ist falsch. Die Geschichte der pakistanischen Judikative, insbesondere in Bezug auf das Kriegsrecht, zeigt, dass die Unzufriedenheit der Juristen mit der Zeit immer größer geworden ist. Die Justiz will endlich ihre verfassungsmäßige Rolle übernehmen.
Ausblick
Die neue Bewegung scheint sich nicht aufhalten zu lassen. Trotz rabiater Unterdrückung werden friedliche Demonstrationen und Mahnwachen organisiert. Die Medien und verschiedene politische Parteien unterstützen diese säkulare Opposition. Im Gegenzug erwägt das Militär offensichtlich Schritte gegen die Medien und gegen politische Aktivitäten generell. Musharraf hat in seiner bisherigen Herrschaft eher untypisch auf harte Repressionen gegen freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit verzichtet. Aber das könnte sich bald ändern.
Die Regierung wird die Judikative wahrscheinlich noch eine Weile kontrollieren. Allerdings dürfte es schwierig werden, die Aufbruchstimmung unter den Juristen des Landes zu unterdrücken. Vielleicht entsteht sogar eine neue politische Partei. Einige hoffen, dass Chaudhry in die Politik geht und ein starker Führer wird. Möglich ist aber auch, dass die Militärregierung Auseinandersetzungen provoziert und sogar Nachbarländern vorwirft, die Juristen zu manipulieren, nur um den Notstand auszurufen oder das Kriegsrecht zu verhängen.
Die Zukunft des Landes hängt in der Schwebe. Die Armee dürfte sich kaum an der Macht halten, sollte Chaudhry als Oberster Richter wiedereingesetzt werden. Das ist derzeit zwar nicht sehr wahrscheinlich, dennoch hat die Armee noch nie so schwach gewirkt wie heute. Zurzeit kann alles passieren.