Entwicklung und
Zusammenarbeit

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Armutsbekämpfung

„Arbeit in mageren Zeiten“

Bei den diesjährigen Wahlen hat Indiens Kongresspartei erheblich von einem Programm namens NREGA profitiert, das bedürftigen Haushalten in ländlichen Gebieten helfen soll. Die Umsetzung begann 2005. Worum es dabei geht, erklärt Entwicklungsforscher K. P. Kannan im Interview.


[ Interview mit K. P. Kannan ]

Was ist die Grundidee von NREGA?
Die Idee von Indiens National Rural Employment Guarantee Act 2005 – bekannt als NREGA – ist es, allen ländlichen Haushalten jährlich bis zu 100 Tage körperlicher Arbeit zum regional üblichen Mindestlohn zu garantieren. Manchmal sprechen indische Medien auch von NREGS, wobei das S für Scheme steht. Mit beidem ist aber dasselbe gemeint. Arbeitsbeschaffungs- und „Food-for-work“-Programme sind nicht neu.

Was ist an NREGA anders?
Frühere Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen waren rechtlich nicht abgesichert. Es waren Projekte, die Regierungen mithilfe der Bürokratie durchsetzten, ohne die Bevölkerung zu beteiligen. Solche Programme basierten nicht auf Bedürftigkeit und das Geld reichte nicht aus, um die Armut wirklich zu bekämpfen. NREGA hingegen wird aus vielen Gründen besser umgesetzt:
– Arbeit wird nur dann verteilt, wenn die Menschen vor Ort einen Bedarf haben. Dieser wird durch die demokratisch gewählte Verwaltung der Dorfgemeinschaft – Panchayat – angemeldet,
– die Panchayats entwickeln auch die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und setzen sie um, so dass es keine Unternehmer gibt, die Geld abschöpfen könnten,
– die Löhne liegen über dem bestehenden Marktniveau, weil die Marktlöhne meist niedriger sind als die staatlich festgesetzten Mindestlöhne,
– die Zivilgesellschaft, die sich für die Armen engagiert, ist wachsamer, und
– schließlich besteht ein größerer politischer Wille, NREGA umzusetzen, als bei früheren Projekten.

Wer profitiert davon?
Nutznießer sind vor allem die landlosen Armen im ländlichen Raum. Diese Menschen müssen hart kämpfen, einen richtigen Job zu finden, so dass sie alles annehmen, selbst wenn es sehr schlecht bezahlt ist. Diese Gruppe und Indiens Kaste der ehemals „Unberührbaren“ sowie auch Volksstämme, die außerhalb der Gesellschaft standen, hängen eng miteinander zusammen. Es gibt auch viele Arbeiter, die zu mittleren Kasten gehören. Ein positiver und wichtiger Nebeneffekt von NREGA ist die Verbesserung der ländlichen Infrastruktur, die schon an sich ein Ziel ist.

Wie wird NREGA derzeit aus politischer Sicht bewertet?
Viele Menschen, die NREGA kennen, sehen das als wichtiges Projekt der Bundesregierung für die Armen. Sie wählten deshalb erneut die Kongresspartei, die NREGA mit eingeführt hatte. In politischen Kreisen erkennt man an, dass das Wahlergebnis zumindest teils – wenn nicht völlig – durch die Armutsbekämpfung, wie etwa NREGA, zustande kam. Das ist wichtig, denn kommunale Parteien haben verloren, auch wenn sie in ein paar Bundesstaaten noch an der Macht sind. Als Sozialwissenschaftler denke ich, dass NREGA nur der Anfang im Kampf gegen Armut ist.

Was sollte Ihrer Ansicht nach als Nächstes getan werden?
Für ein großes und vielfältiges Land wie Indien ist die Armutsbekämpfung eine enorme Aufgabe. Aber die indische Politik muss sie direkt angehen. Früher galt die Landreform als große Aufgabe. Ich denke, es wird noch komplexer. Ich würde für eine Reihe von Sozialdienstleistungen sorgen, wie etwa öffentliche Essensausgabe, Zugang zu Bildung, Basisgesundheitsversorgung und die Bereitstellung von besseren Unterkünften. Zugleich sollte es einen Rechtsanspruch auf einen Mindestlohn gemäß NREGA geben. Bildung und Kompetenzen sind entscheidend für ein Einkommen, mit dem die arbeitenden Armen ihre Grundbedürfnisse bestreiten können. Statt um volkswirtschaftliches Wachstum sollte sich die Bundesregierung lieber um Arbeitsplätze zu anständigen Bedingungen mit fairen Löhnen kümmern.

Ich habe gelesen, dass NREGA dazu beigetragen hat, die Binnenmigration zu begrenzen, insbesondere aus dem armuts- und konfliktreichen Bihar. Stimmt das?
Ja, das berichten Medien und zivilgesellschaftliche Organisationen. Migrieren Menschen in Indien vom Land in die Stadt – oder von einem armen in einen reichen Staat – so tun sie das meist aus der Not heraus. NREGA scheint diese Migration verringert zu haben. Das zeigt nur wieder, wie wichtig es ist, anständige Arbeitsmöglichkeiten vor Ort zu schaffen.

Warum ist die Arbeitsgarantie in ländlichen Gebieten besonders wichtig?
Indien ist praktisch ein Schwellenland. Nur 20 Prozent des Einkommens werden in der Landwirtschaft erwirtschaftet. Zugleich arbeiten aber 57 Prozent der Menschen dort. Die Landbevölkerung hängt von der Landwirtschaft und vom Primärsektor insgesamt ab. Das Hauptproblem ist, dass Landwirtschaft und andere Primäraktivitäten teilweise oder komplett saisonal sind. Arbeit muss es allerdings auch in mageren Zeiten geben – daher sind Jobgarantien so wichtig.

Indien wurde dieses Jahr von extrem schlechtem Wetter heimgesucht. Erst gab es kaum Regen, dann heftige Güsse in kürzester Zeit. Beides ist schlecht für die Landwirtschaft. Kann NREGA die Armut unter diesen Umständen begrenzen?
NREGA hat die Notlage armer Landfamilien durch das Angebot bezahlter Arbeit höchstwahrscheinlich gelindert. Man muss aber erst die entsprechenden Berichte abwarten. Priorität hat derzeit die Nothilfe, weil viele Menschen ihr Vieh, ihre Häuser und ihre Ernten verloren haben. Der generelle Getreidemangel wird durch Indiens Vorratslagersystem aufgefangen.

Inwieweit hilft NREGA den Leuten vom Land, die hohen und steigenden Lebensmittelpreise zu verkraften?
NREGA kann die Inflation der Lebensmittelpreise nicht stoppen. Das Programm gibt der armen Landbevölkerung aber mehr Kaufkraft. Das kann sogar zum Preisanstieg beitragen, wenn hohe Nachfrage auf begrenztes Angebot trifft. Insgesamt ist Indien heutzutage autark, was die Lebensmittelversorgung angeht.

Gibt es Pläne, etwas Vergleichbares auch für städtische Gebiete zu entwickeln?
Die Nationale Kommission für Unternehmen im Informellen Sektor (2004-2009) – eine Behörde, die den Zustand der informellen Wirtschaft untersucht – hat ein ähnliches Programm für städtische Gebiete empfohlen. Die Bundesregierung untersucht diesen Vorschlag. Bisher haben Menschen, die in städtischen Gebieten leben, kein Recht auf Arbeit. Inzwischen hat aber die Regierung ein Wohnungsbauprogramm für die Armen in den Städten angekündigt.

Können andere Entwicklungsländer, beispielsweise in Afrika, NREGA übernehmen?
Als Idee ist es hervorragend geeignet. Praktisch wird der Erfolg jedoch vom Willen einer Regierung abhängen, Haushaltsausgaben zugunsten der Armen neu zu verteilen. Auch die Umsetzungsmaschinerie wird eine große Rolle spielen. Obwohl Indien einen gut funktionierenden Beamtenapparat hat, gibt es Reibungsverluste und eine generelle Abscheu gegenüber der Not armer Menschen. Das ist – vermute ich – nicht nur in Indien der Fall.

Fragen von Hans Dembowski.