Rechtssicherheit
Damit Amtsinhaber kontrolliert werden
[ Jonas Wollenhaupt ]
Die Rechtsordnung der früheren Kolonialmächte wirkt in vielen Entwicklungsländern bis heute weiter. Englische, französische und portugiesische Rechtstexte sind indessen oft nur den Eliten zugänglich, und diese nutzen ihr Herrschaftswissen zur Sicherung ihrer Macht. Gesetze erscheinen vielen Menschen deshalb eher Instrumente willkürlicher Amtsführung zu sein, denn als Mittel um die Amtsinhaber zu kontrollieren. Damit – wie in Demokratien üblich – die Justiz die Exekutive auf das geltende Recht verpflichten kann, ist ein breites Verständnis der offiziell geltenden Regeln nötig. Deshalb sind Justiz und Rechtssicherheit wichtige Themen der Entwicklungspolitik.
Die deutsche Bundesregierung betont zudem, dass ein funktionierender Rechtsstaat eine Voraussetzung für wirtschaftliche Prosperität ist. Denn Rechtsunsicherheit macht notwendige Investitionen besonders riskant – und folglich unwahrscheinlich. Deutschland bietet, wie auf einer Tagung des Auswärtigen Amts in Berlin im Januar abermals deutlich wurde, Unterstützung bei Reformen auf diesem Gebiet an. Die bilinguale Broschüre (deutsch-englisch) „Law made in Germany“ informiert über deutsche Rechtsgrundsätze.
Neben den offiziell geltenden Gesetzen prägen allerdings oft traditionelle und religiöse Normen den Alltag der Menschen. Solch ungeschriebenes Recht kann – so Jerzy Montag, grüner Bundestagsabgeordneter und Mitglied der vor allem im ehemaligen Ostblock aktiven deutschen Stiftung Internationale Rechtliche Zusammenarbeit (IRZ) – aber nicht einfach durch formelle Gesetzgebung aufgehoben werden.
In Afghanistan zum Beispiel existiert in vielen Gegenden gar kein funktionierender Staat. Die Bevölkerung regelt Konflikte anhand der islamischen Scharia oder dezentraler Ältestenräte (Jirgas). Diese Rechtswirklichkeit muss ernst nehmen, wer in Afghanistan etwas erreichen will, warnt Tom Koenigs, der ehemalige UN-Sonderbeauftragte für das Land. 71 Prozent der rund
80 000 afghanischen Polizeibeamten sind laut Auswärtigem Amt Analphabeten. Darunter leidet die Rechtsstaatlichkeit, denn moderne Ermittlungs-, Justiz- und Strafvollzugsinstitutionen erfordern ein Mindestmaß an Bildung.
Zudem, so warnen Fachleute, sind ein funktionierender Rechtsstaat und rechtsfreie Räume nicht kompatibel, weshalb Warlords und Taliban in das System integriert werden müssten. Das wiederum werde Kompromisse erfordern, was die Rechtsinhalte angeht. Mit der Integration sinkt aber auch der Anspruch des Rechtsmodells.
Der Ausweg könnte eine Rechtsbildung von unten sein, indem Recht und Akteure sich parallel miteinander entwickeln. Sam Muller, der Generalsekretär des Hague Institute for the Internationalisation of Law (HIIL), betont, dass Rechtsstaatlichkeit ein Prozess und kein fertiges Produkt sei. Ausgangspunkt müsse immer die lokale Rechtskultur sein, die in einem kritischen und konstruktiven Dialog weiterentwickelt werden könne. Rolf Knieper, Professor an der Universität Bremen, stimmt zu. „Ohne Nachfrage“, meinte er, gebe es auch „keine Akzeptanz“ für neue Regeln. Lokal vorherrschende Gerechtigkeitsvorstellungen ließen sich nur im Dialog mit der Bevölkerung verändern.
Deutschland hat folglich die Aufgabe, nicht nur ein Produkt zu erarbeiten und in den Entwicklungsländern anzubieten, sondern muss vor allem Prozesse anstoßen und begleiten. Ohne demokratische Legitimation hat der Rechtsstaat, darüber ist sich die Fachwelt einig, keine dauerhafte Substanz.
Der vom Auswärtigen Amt neu gegründete „Arbeitsstab Rechtsförderung“ wird die Impulse des „21. Forums Globale Fragen“ sicherlich nützlich finden und in der Entwicklungspolitik verwenden. Nach den Menschenrechtsskandalen von Abu-Ghraib und Guantánamo müssen die Industrienationen aber daran arbeiten, ihre Glaubwürdigkeit wieder herzustellen, um in Zukunft ein Modell anzubieten, das nachgefragt wird. (jw)