Wir möchten unsere digitalen Angebote noch besser auf Sie ausrichten.
Bitte helfen Sie uns dabei und nehmen Sie an unserer anonymisierten Onlineumfrage teil.

Unsere Sicht

Bewegungen sind oft ohne formale Führung stark

Soziale Bewegungen kommen und gehen. Oft entstehen sie plötzlich, wobei manche die Gesellschaft für immer ändern und andere fast wirkungslos verebben. Manche Bewegungen überschreiten Grenzen, verlaufen dann aber an unterschiedlichen Orten recht unterschiedlich.
Algerier protestieren für die Freilassung des Journalisten Khaled Drareni in Algier. picture-alliance/Ammi Louiza/ABACA Algerier protestieren für die Freilassung des Journalisten Khaled Drareni in Algier.

In unserer unruhigen Zeit gibt es viele Bewegungen. 2020 verbreitete sich Black Lives Matter von Minneapolis in die ganze Welt. 2018/2019 wurde „Fridays for Future“ das Motto von klimabesorgten Teenagern auf allen Kontinenten. 2011 erschütterte der Arabische Frühling Nordafrika und den Nahen Osten. Aktuelle Demokratieforderungen in einigen Ländern dort erscheinen wie ein Arabischer Frühling 2.0, sie entsprechen aber auch ähnlichen Bewegungen von Chile über Belarus bis Hongkong.

Einige grundsätzliche Aspekte sind wichtig. Soziale Bewegungen haben typischerweise keine formale Führung. Sie entstehen auf der Grundlage lockerer Netzwerke von Gleichgesinnten, die Leidensdruck irgendwann zu gemeinsamem Handeln bringt. Die beiden wichtigsten Konsequenzen dieser Führungslosigkeit sind:

  • Bewegungen sind schwerer zu unterdrücken, weil staatliche Stellen nicht nur die Spitzenleute zum Schweigen bringen müssen, und
  • Bewegungen neigen zu utopischen Forderungen, weil niemand in den eigenen Reihen für die konkrete Umsetzung verantwortlich ist.

Um Ziele zu erreichen, ist mehr nötig. Tatsächlich haben soziale Bewegungen oft enge Beziehungen zu formalen Organisationen (etwa Vereinen, Parteien und Genossenschaften), die sie entweder selbst gründen oder die bereits existieren. Wo demokratische Freiheiten selbstverständlich gelten, fügen sich neue Bewegungen schnell in die Zivilgesellschaft ein. Oft fordern sie Dinge wie Umweltschutz, Inklusion oder mehr soziale Gerechtigkeit - und sind damit anschlussfähig. Wo aber zivilgesellschaftlicher Raum eng begrenzt ist, stellen Bewegungen schnell die politische Ordnung selbst infrage, sodass Forderungen nach Demokratie Vorrang bekommen. Demokratische Systeme sind stärker als autokratische, weil sie auf Kritik reagieren können, ohne sich bedroht zu fühlen.

Wütende Menschen sind oft radikal, was besonders auf junge Leute zutrifft. Manche, aber längst nicht alle, setzen Radikalität mit Gewalt gleich. Sie irren. Die Geschichte zeigt, dass gewaltfreier ziviler Ungehorsam oft erstaunlich erfolgreich ist, wohingegen militante Organisationen regelmäßig autoritäre Mentalitäten herausbilden. Andererseits provozieren repressive Regierungen gern Gewalt, denn sie wissen, dass gut ausgerüstete und trainierte Sicherheitskräfte Straßenkämpfe eher gewinnen, als sie selbst in mit rationalen Argumenten ausgetragenen öffentlichen Debatten die Oberhand behalten. 

Nicht jede soziale Bewegung ist progressiv. Auch der Rechtspopulismus stützt sich auf diverse Netzwerke und weitverbreitete Frustrationen. Seine Art des Nationalismus ist allerdings oft hierarchisch, leugnet wissenschaftliche Erkenntnisse eher und orientiert sich stärker an charismatischen Führern. Oft spüren Rechtspopulisten Unterstützung in Polizei und Militär, was ihr Verhältnis zur Gewalt prägen kann. Finden sie finanzkräftige Geldgeber, verbreiten sie zudem ihre Propaganda mit erheblichem Medienaufwand. Kleine Initiativen marginalisierter Menschen können das nicht – aber manchmal lösen sie trotzdem überraschend starke politische Bewegungen aus.


Hans Dembowski ist Chefredakteur von E+Z Entwicklung und Zusammenarbeit / D+C Development and Cooperation.
euz.editor@dandc.eu