Ressourcenreichtum

„Am liebsten ­Friedhofsruhe“

Ölreiche Länder werden häufig autoritär regiert. Für die Förderung werden nicht viele Menschen gebraucht. Deshalb kann, wer die Macht hat, diesen Bodenschatz ausbeuten, ohne sich sonderlich um die Bedürfnisse der Bevölkerung zu kümmern. Dass es in der arabischen Welt besonders viel Öl, aber auch besonders repressive Regime gibt, ist kein Zufall, sagt der auf die Region spezialisierte Journalist Loay Mudhoon, und das wirkt sich auch auf aktuelle Konflikte in Syrien und Irak aus.
ISIS-Flagge auf einem Hügel bei Kobane in Sichtweite der türkischen Grenze Anfang Oktober. Zumapress/picture-alliance ISIS-Flagge auf einem Hügel bei Kobane in Sichtweite der türkischen Grenze Anfang Oktober.

Leidet die gesamte arabische Welt am Ölfluch?
Ja, es fällt auf, dass alle ölreichen Länder der arabischen Welt lange entweder von säkularen Diktatoren oder absoluten Monarchen regiert wurden. Der Ölreichtum blockiert eine humane und demokratische Einwicklung. Dort, wo es kein Öl gibt, sieht es leider kaum besser aus. Dort gibt es aber auch weniger Entwicklungschancen. Ökonomisch hängen die Länder ohne Öl von den Petrodollars der Nachbarn ab. Das läuft unter anderem über direkte staatliche Unterstützung, Geldtransfers an Verwandte und Migration.

US-Präsident George W. Bush versprach 2003, die Region werde demokratisch erblühen, wenn Iraks Diktator Saddam Hussein falle.
Das war ein gewaltiger Irrtum. Heute sieht jeder, wohin die völkerrechtswidrige Invasion geführt hat. Demokratie lässt sich nicht von außen mit Waffen erzwingen.

Aber auch der arabische Frühling scheint gescheitert – mit der Ausnahme Tunesiens vielleicht, wo die Demokratie noch möglich ist. Warum haben die Aufstände den Monarchen weniger angehabt als den Diktatoren?
Die erste Welle der Arabellion ist gescheitert. Das hat mehrere Dimensionen:

  • Königsfamilien haben etwas mehr Legitimität als Diktatoren von Republiken. Sie sind institutionell besser verankert. Sie stützen ihre Macht nicht nur auf das Militär, sondern auch auf tribale Zugehörigkeit. Sie haben, anders als die Diktatoren, auch keine umfassende Modernisierung versprochen.
  • Die Monarchien, die Öl ausführen, haben einen Teil ihres Reichtums umverteilt. In manchen Golfstaaten ist die heimische Bevölkerung recht wohlhabend.

Die eigentliche Ursache der Arabellion war der Jugend-Tsunami: die große Zahl junger Leute, die im Vergleich zu früheren Generationen gut ausgebildet sind, die dank Internet und Satellitenfernsehen wissen, wie es anderswo zugeht, und die für sich selbst keine Zukunft sehen. Die wirtschaftliche Lage ist in Tunesien und Ägypten verzweifelter als in Saudi-Arabien oder Katar.


Dann hätten sich die dortigen Monarchen doch entspannt zurücklehnen können?
Nein, und zwar aus mehreren Gründen nicht:

  • Die Legitimität der Königshäuser ist zwar stärker als die der säkular-nationalistischen Diktatoren, aber dennoch recht schwach. Die saudischen Herrscher wollen Stabilität um jeden Preis und fürchten nichts mehr, als dass sich die Idee festsetzt, Legitimität hänge von Volkswillen und Wahlen ab.
  • Der Aufstand erfasste 2011 früh den Golfstaat Bah­rain, wurde dort aber mit Militärhilfe der Nachbarn rasch niedergeschlagen. Besonders brisant war dabei, dass in Bahrain ein sunnitischer Monarch eine überwiegend schiitische Bevölkerung regiert. Das rigide Islamverständnis der Golfstaaten hält Schiiten für eine Gefahr, die kontrolliert werden muss. Saudi-Arabien unterdrückt im eigenen Land eine große schiitische Minderheit.


Die Golfstaaten gelten als Verbündete des Westens, aber sie halten sich nicht an westliche Werte.
Es ist allgemein bekannt, dass die Menschenrechte dort nicht gelten. Der westlichen Öffentlichkeit ist das Ausmaß des Schreckens aber nicht klar, das selbstverständlich auch nicht überall gleich ist. Saudi-Arabiens Gesellschaftsordnung ist jedoch wirklich extrem brutal und rückständig, und dieses Land dominiert dank riesiger Ölvorkommen, einer recht großen Bevölkerung von 30 Millionen Menschen und den heiligen Stätten von Mekka und Medina die Halbinsel. Laut Amnesty International hat Saudi-Arabien 2013 mindestens 79 Todesstrafen vollstreckt – sogar an drei Teenagern, die noch nicht 18 waren. Dieben wird die Hand abgeschlagen. Frauen dürfen nicht Auto fahren. Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Religionsfreiheit – all das gibt es nicht. Das System ist extrem repressiv. Die Königsfamilie beansprucht absolute Macht, und dabei hilft ihr die staatstragende, wahhabitische Ideologie.

Bitte erklären Sie das.
Der Wahhabismus ist eine streng puritanische Lesart des Islams. Er besteht auf wortwörtlicher Auslegung des Korans und duldet an seiner Sicht, die er für gottgewollt erklärt, keine Kritik. Schriften aus dem siebten Jahrhundert christlicher Zeitrechnung taugen aber nur bedingt zur Regelung des gesellschaftlichen Lebens im Globalisierungszeitalter. Die Wahhabiten sind ebenso rigide wie rückwärtsgewandt. Sie kontrollieren in Saudi-Arabien das Bildungswesen und prägen auch das Denken anderer Golfstaaten. Schiiten zu bekämpfen ist ihnen ein zentrales Anliegen. Das hat Wurzeln in der frühen Geschichte des Islams, hilft aber heute, Stimmung gegen den Iran zu schüren, der als regionaler Konkurrent wahrgenommen wird.

Der Iran ist ebenfalls ein autoritär regiertes Land mit viel Öl.
Leider dämonisieren westliche Medien tendenziell den Iran und verharmlosen Saudi-Arabien. Ich will die Lebensverhältnisse im Iran bestimmt nicht schönreden, aber in mancher Hinsicht ist Saudi-Arabien viel schlimmer. Im Iran sind Frauen trotz Einschränkungen in der Öffentlichkeit und in der Arbeitswelt und sogar in der Politik präsent – in Saudi-Arabien nicht. Im Iran gibt es eine breite Zivilgesellschaft – in Saudi-Arabien nicht. Im Iran wird zwar nicht der oberste Revolutionsführer gewählt, der Staatspräsidenten aber sehr wohl – in Saudi-Arabien ist kein Spitzenfunktionär gewählt.

In welchem Maße fördern die Golfstaaten mit Petrodollars sunnitische Extremisten im Ausland?
Die Regierungen tun das nicht direkt. Aber es gibt Privatleute und Stiftungen, die ihren Reichtum Ölexporten verdanken und wahhabitisch ausgerichtet sind. Sie lassen in der ganzen muslimischen Welt missionieren. Das säht Hass, wo Schiiten und Sunniten benachbart sind oder wo der Islam mit anderen Religionen koexistiert – etwa in Indonesien, Bangladesch oder der Sahelzone. Die Grenzen vom Wahhabismus zum militanten Salafismus sind fließend. Auch zum terroristischen Dschihadismus, der den „Heiligen Krieg“ propagiert, sind die Grenzen fließend.

Also stimmt es, dass die Golfstaaten terroristische Organisationen wie Al Kaida oder jetzt ISIS unterstützen?
Nein, so einfach ist das nicht. Die Golf-Regierungen sind schockiert, wenn sich solche Fanatiker irgendwann auch gegen sie selbst richten – und dann wollen sie die Terroristen auch bekämpfen. Sie erkennen die Gefahr aber erst sehr spät, denn die Denkweise der Dschihadisten wurzelt im radikalen Wahhabismus. Saudi-Arabien hat jetzt viele Truppen an die Grenze nach Syrien und Irak geschickt, um ISIS abzuwehren. Zugleich hegen aber sehr viele Menschen in Saudi-Arabien Sympathien für ISIS. Dschihadistisches Gedankengut erscheint ihnen plausibel – und das eigene Herrscherhaus empfinden sie als dekadent.

Die ägyptischen Muslimbrüder sind auch ­Sunniten, aber die Saudis haben ihnen nicht geholfen.
Sie haben sogar den Militärputsch gegen Präsident Mohammed Mursi aktiv unterstützt – und ich beharre auf dem Begriff Putsch, denn General Abdel-Fatah al-Sisi hat schon nach einem Jahr einen demokratisch gewählten Staatschef gestürzt.

Was hat die Saudis an Mursi gestört?
Das Haus Saud sah ihn als riesige Bedrohung. Er war gewählter Präsident. Die Muslimbrüder sind vergleichsweise pragmatisch. Sie orientieren sich am Glauben, aber nicht an seiner wahhabitischen Interpretation. Sie erkennen Volkssouveränität im Prinzip an. Das tun auch all die anderen politischen Organisationen, die historisch ihnen verwandt sind und in Wahlen kandidieren, wie die AKP in der Türkei oder die Ennahda in Tunesien. Die Golf-Monarchien haben auf diese Art von politischem Islam auch kaum Einfluss. Folglich haben sie 2011 sofort begonnen, in Ägypten alle möglichen salafistischen Strömungen zu fördern, damit deren Konkurrenz die Muslimbrüder so weit wie möglich schwächt. Mit al-Sisi fühlen sich Saudis dagegen wohl. Es herrscht wieder Ruhe in Ägypten. Auch die demokratischen Revolutionäre des arabischen Frühlings sind mittlerweile in Haft. Die Konterrevolution triumphiert auf der ganzen Linie. Saudi-Arabien unterstützt sie – ohne seine Milliardenhilfe wäre Ägypten ökonomisch schon kollabiert.

Katar hat aber zu den Moslembrüdern gehalten. Warum verhält es sich anders als Saudi-Arabien?
Katar verfolgt eine interessante, multidimensionale Außenpolitik. Die Familie des Emirs sucht Kontakt nach allen Seiten – vermutlich auch, weil sie sich zwischen den regionalen Riesen Saudi-Arabien und Iran behaupten will. Ihre Position ist dabei teilweise widersprüchlich. Sie lässt die USA in Katar die größte Militärbasis der Region betreiben und kooperiert zugleich mit fundamentalistischen Extremisten. Die Kataris erkannten die Chance, im arabischen Frühling ihren Einfluss durch die Unterstützung der Muslimbrüder und verwandter Kräfte auszubauen. Sie haben in vielen arabischen Ländern auch wegen Al Jazeera großen Einfluss. Dieser Sender behagt westlichen Beobachtern oft nicht, er nimmt oft Partei für die Muslimbrüder, arbeitet dennoch professioneller als andere Medien. Er hat die Medienlandschaft der gesamten arabischen Welt ein Stück weit geöffnet.

Aber im syrischen Bürgerkrieg halten die Sunniten wieder zusammen. Die sunnitische AKP-Regierung der Türkei findet es wichtiger, in Syrien Bashar al-Assad zu stürzen, der der schiitischen Sekte der Alawiten angehört. Die AKP zögert auch, den Kurden in Syrien beizustehen, weil sie mit ihrer eigenen kurdischen Minderheit Probleme hat.
Ja, die Lage ist sehr kompliziert, und aus türkischer Sicht ist es – milde gesagt –  befremdlich, wenn Stimmen aus NATO-Ländern, die selbst allenfalls ihre Luftwaffe einsetzen wollen und vielleicht selbst davor zurückschrecken, Ankara zum Kampf aufrufen. Das blutige Drama von Kobane ist grässlich, keine Frage. Aus Sicht der AKP droht der Türkei aber ein Mehrfrontenkrieg, in dem ISIS, Kurden, diverse Milizen und das Assad-Regime gegeneinander kämpfen und der auch die Türkei erfassen kann, wenn sich die dortigen Kurden gegen die Regierung erheben. Vorsicht ist da zumindest verständlich. Und ohne UN-Mandat in ein anderes Land einzumarschieren ist in jedem Fall heikel.

Was haben westliche Regierungen falsch gemacht?
Jede Menge. Das ging schon mit den willkürlich gezogenen Grenzen los, die die Kolonialmächte hinterließen und die den gesellschaftlichen Identitäten nie entsprachen. Der Westen hat jahrzehntelang vor allem darauf geachtet, dass Öl fließt und Israels Existenz sicher ist. Die absurde Dichotomie, dass in der arabischen Welt entweder autoritäre Regime herrschen oder der Islamismus kommt, wurde akzeptiert. Dabei war das die Propaganda der Herrscher. Der Westen tat auch so, als sei der Islamismus ein monolithisches Phänomen. Der Fundamentalismus der Wahhabiten wurde, wenn überhaupt, erst nach den Terroranschlägen vom 11. September erkannt. Bis heute fehlt das Verständnis dafür, dass der Islam viele Schattierungen hat – wie das Christentum. Der Westen hat auch nicht begriffen, dass es keine friedliche Lösung in Syrien, Irak oder anderswo gegeben kann, wenn die Bürger keine Möglichkeit bekommen, selbst gestaltend in die Politik einzugreifen – und sich dabei auch auf religiös fundierte Werte zu beziehen.

Was passiert stattdessen?
Im Moment lebt – besonders in Ägypten – die alte Dichotomie zwischen unterdrückendem Militärapparat und als Terroristen diskreditierten Oppositionsgruppen wieder auf. In Syrien sind die, die am radikalsten auftreten, am erfolgreichsten. Saudi-Arabien spielt weiter seine alte Doppelrolle als absolute Monarchie mit fundamentalistisch-religiöser Ideologie. Das Königshaus in Riad hätte am liebsten Friedhofsruhe in der gesamten arabischen Welt, weil es sich dann sicher fühlt.

Die Fragen stelle Hans Dembowski.

 

Loay Mudhoon ist Nahostexperte der Deutschen Welle und Redaktionsleiter des Fachportals „Qantara.de – Dialog mit der islamischen Welt“.
loay.mudhoon@dw.de