Digitaler Aktivismus
Live aus der Favela
Die Visualisierung der Metropole Rio de Janeiro auf Google Maps hat in Brasilien zum Eklat geführt. Auf einmal wurden Hunderte von Armenvierteln angezeigt, die von Sehenswürdigkeiten wie dem Zuckerhut oder der Christusstatue von Rio de Janeiro ablenken. Rio sehe auf Google Maps aus wie eine riesige Ansammlung von Favelas, entrüsteten sich viele Brasilianer.
Die Karte offenbart aber eine Wahrheit, die in der Vergangenheit aus Imagegründen, teils aus mangelnder Zugänglichkeit zu den von Drogengangstern beherrschten Favelas, verdrängt wurde: Etwa ein Viertel der 6,3 Millionen Einwohner Rios lebt in Armenvierteln. Jahrzehntelang wurden die fast 1000 Favelas, deren Ziegelhäuser Berghänge in der reichen Südzone, aber auch die ärmliche Nordzone überziehen, von den Stadtkarten verbannt.
Wenn die brasilianischen Medien über Favelas berichteten, thematisierten sie vor allem Gewalt, Armut und Drogenhandel. Doch das Internet eröffnet den Favelabewohnern die Möglichkeit, das Geschehen dort sichtbar zu machen, mit der Außenwelt zu kommunizieren und eine neue, positivere Perspektive zu prägen. Die 23-jährige Dandara Couto Rodrigues streift mit einem GPS-fähigen Mobiltelefon regelmäßig durch ihren Wohnort, die Favela Complexo da Maré im Norden Rios. Sie fotografiert interessante Orte und lädt Fotos, Standort und Zusatzinformationen auf WikiMapa hoch.
Die gemeinschaftlich erstellte Karte schafft einen Überblick über Kirchen, Krankenhäuser, Schulen, Sportzentren, Organisationen, Restaurants, Bars, Bushaltestellen, Läden und Straßen in den fünf Armensiedlungen Complexo da Maré, Cidade de Deus, Santa Marta, Pavão Pavãozinho und Complexo do Alemão in Rio. Die virtuelle Karte ist eines der Projekte der Initiative Rede Jovem („Jugendnetzwerk“). Seit 2000 treibt sie den sozialen Wandel in den Favelas mit neuen Technologien, vor allem Internet, voran. Insgesamt fünf feste Wiki-Reporterinnen und mehr als 700 Freiwillige haben in den letzten zwei Jahren in der WikiMapa Tausende von Informationen zusammengestellt.
Die virtuellen Karten erleichtern es den Favelabewohnern, Dienstleistungen in ihrer Nähe zu finden. Die gelisteten Organisationen, Initiativen und Geschäfte vermitteln aber auch der Außenwelt, welch kreatives Potenzial sich in Rios Favelas verbirgt. Im Vorfeld der WM 2014 und der Olympischen Spiele 2016 strömen zudem immer mehr Touristen nach Rio. Viele möchten die Favelas besuchen. Wer sich ohne Touristenführer in die Armenviertel wagt, kann sich von WikiMapa den Weg durch das Labyrinth aus Straßen und engen Gassen weisen lassen.
Blogger berichten
In der Favela Rocinha bloggt der 49-jährige Zezinho seit drei Jahren auf Englisch über die Entwicklungen in seinem Stadtteil. „Ich bin stolz ein Favelado zu sein und ich möchte die Welt an meinem Leben teilhaben lassen“, sagt er. Zezinhos Berichte sollen helfen, das Image der Favelas zu verbessern: „Die Medien berichten nur über negative Dinge, Menschen außerhalb der Favela haben sehr wenige korrekte Informationen“, kritisiert er.
Auf seinem Blog „Life in Rocinha“ schreibt er über die DJ-Schule, die er für Jugendliche betreibt und befragt ausländische Touristen in kurzen Interviews zu Klischees und Erfahrungen. Oder er bloggt über die gesellschaftlichen Barrieren und Stereotype, mit denen er aufgewachsen ist. Zezinho ist nicht der einzige, dem das Internet hilft, soziale Marginalisierung ein Stück weit zu überwinden und neue Geschäftsideen zu entwickeln. Viele Favelabewohner werben mittlerweile online, um auf ihre Projekte oder kommerzielle Angebote aufmerksam zu machen. Touristenführer, Immobilienmakler und Geschäfte tragen sich bei Facebook ein, junge Fotografen aus den Favelas verbreiten Arbeitsproben auf Facebook und Flickr.
In einigen Favelas haben Bürgerjournalismus-Projekte wie Gemeinschaftszeitungen oder Gemeinschaftsradios eine lange Tradition, die ihr Angebot teils um Onlineportale erweitert haben. So können sie auch außerhalb der Favela ein größeres Publikum erreichen.
O Cidadão („Der Bürger“) war 1999 eines der ersten dieser Blätter im Complexo da Maré und betreibt inzwischen auch einen eigenen Blog. Im Complexo do Alemão hat der heute 18-jährige Rene Silva vor sieben Jahren die Zeitung Voz da Comunidade („Stimme der Gemeinschaft“) gegründet. Die Zeitung hat bei Facebook jetzt schon 6000 Fans – auf Twitter folgen ihr fast 100 000 Menschen.
Auch die 2001 von André Fernandes gegründete Nachrichtenagentur ANF bemüht sich um die Verbreitung von Nachrichten aus den Favelas. Zudem soll ein internationales Netzwerk eingerichtet werden, in dem über Entwicklungsprobleme in Städten weltweit berichtet wird. (Siehe Elton Hubner „Forum der Armen“ in E+Z/D+C 2011/11.)
„Mir gefällt Twitter und Facebook“, sagt Silva. „Die sozialen Netzwerke sind für mich ein Weg sehr schnell mit der Gemeinschaft zu kommunizieren.“ Er ruft über Facebook und Twitter zu Spenden von Schulmaterial für Favelakinder auf oder twittert Politiker oder die Polizei an, wenn er Missstände wie gebrochene Wasserleitungen anprangern möchte. Silva ist fast jede Minute im Internet, mit Smartphone oder Laptop, die Firmensponsoren ihm zur Verfügung gestellt haben. „Es haben nicht alle Internet, aber die Leute benutzen es trotzdem – über Handy oder im Internetcafe“, sagt Silva. Die Regierung sieht diese Öffnung der Favelas durch das Internet gern. Die moderat linke Arbeiterpartei prägt seit 2003 die Politik. Damals wurde ihr Kandidat Lula da Silva Präsident. Er und seine seit 2011 amtierende Nachfolgerin Dilma Rousseff machten es sich zum Ziel, die Armut zu reduzieren und Zukunftschancen für benachteiligte Brasilianer zu schaffen.
Bessere Lebensbedingungen in den Favelas sind auch für die ökonomische Entwicklung zentral, denn angesichts des Wirtschaftsbooms fehlen in vielen Branchen Fachkräfte. Wenn die arme Bevölkerung sich für solche Aufgaben qualifizieren soll, braucht sie aber stabile Verhältnisse.
Schließlich investiert Brasilien aber auch mit Blick auf die Fußball-WM 2014 und Olympia 2016 in die Favelas. Armenviertel und kriminelle Banden sollen das Image des Landes nicht beflecken. Ein Mix aus strikter Strafverfolgung und Sicherheitspolitik auf der einen Seite und urbaner Aufwertung durch neue Schulen, Bibliotheken, Sportzentren et cetera auf der anderen, soll in strategisch wichtigen Favelas den sozialen Wandel vorantreiben.
Kostenloses WLAN
Die Regierung hat unterdessen in einigen Favelas auch kostenlose WLAN-Netze eingerichtet und bietet Internettrainings an. Allerdings sollen die Verbindungen unzuverlässig sein – und nicht jeder hat einen Computer oder ein internetfähiges Handy. In Cidade de Deus soll zwar fast die Hälfte der Bewohner einen Rechner haben, in der Rocinha gilt das aber Schätzungen des Bloggers Zezinho zufolge allenfalls für 20 Prozent der Bewohner. „Internetcafes sind wichtig“, sagt Zezinho. Um das Jahr 2004 herum eröffnete in der Rocinha das erste Internetcafe, heute bieten dort mehr als 80 sogenannte „LAN-Houses“ einen günstigen Internetzugang an.
Zezinho besitzt seit zwei Jahren einen eigenen Laptop. Das kostenlose WLAN-Netz der Rocinha erreicht höchstens sein Hausdach – meistens benutzt er ein Modem. Die Verbindung sei zwar langsam, aber funktioniere „95 Prozent der Zeit“. Er räumt ein: „Bei starkem Regen und Wind habe ich Probleme mit der Verbindung – und vielleicht dreimal im Jahr passiert ein totaler Stromausfall.“
Sonja Peteranderl
berichtet als freie Journalistin aus Lateinamerika.
sonja.peteranderl@gmail.com