Interview mit Paul Romer

„Gebt Armen eine Chance“

Ungeeignete Rahmenbedingungen würgen in vielen Ländern Entwicklung ab. Der Ökonom Paul Romer schlägt deshalb vor, neu Städte zur gründen, in denen zeitgemäße Regeln gelten würden. So will er Millionen Menschen ermöglichen, in Frieden und Sicherheit zu leben, zu arbeiten und Familien zu gründen. Vor einer Veranstaltung der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung im Mai in Berlin sprach Romer über seine Idee der „Charter Cities“ mit Hans Dembowski.

Ist es nicht undemokratisch und autoritär, irgendwo eine neue Stadt mit neuen Gesetzen zu schaffen?
Legitimität entsteht nicht nur dadurch, dass man Leute wählt, die dann Regeln aufstellen. Legitimität entsteht auch dadurch, dass Menschen ihren Wohnort selbst bestimmen und dort geltende Regeln anerkennen. Migranten akzeptieren meist die Normen des Landes, in das sie ziehen. Keiner sollte gezwungen werden, in einer Charter City wohnen. Aber viel mehr Menschen als heute der Fall sollten die Wahl haben, irgendwo hinzugehen, wo sie bessere Chancen haben. Langfristig würde in Charter Cities auch demokratische Selbstbestimmung entstehen. Vordinglich ist aber, dass die Menschheit gesunde neue Städte braucht, um Millionen aufzunehmen, die Veränderung wollen.

Welche Regeln bräuchte denn eine solche neue Stadt?
Zwei Arten von Regeln sind wichtig. Erstens brauchen die Menschen persönliche Sicherheit. Dafür können Justiz und Polizei sorgen. Polizisten werden immer gebraucht werden, um Schwerverbrechen wie Raub oder Entführung zu bekämpfen. Strenge Regeldurchsetzung kann zudem am Anfang eine Kultur der Gesetzesbefolgung in Gang setzen. Auf dieser Basis tragen sich dann langfristig viele Normen quasi von selbst, ohne massive Überwachung. Zweitens müssen die ökonomischen Rahmenbedingungen stimmen. Eigentum muss klar definiert und sicher sein, man muss Verträge einklagen können.

Wären die Kosten für den Bau einer neuen Stadt mit 5 Millionen oder mehr Bürgern nicht immens?
Die Erfahrung lehrt, dass gut funktionierende Städte, selbst wenn sie vor allem Menschen mit niedrigen Einkommen anlocken, Werte schaffen, welche die Kosten bei Weitem übertreffen. Denken Sie an Shenzhen: Es war eine gute Investition, diese chinesische Stadt vor 30 Jahren als Sonderwirtschaftszone zu starten. Ihr Wert ist viel größer, als es gekostet hat, sie zu bauen. Weil die Regierung hier neue Regeln ausprobierte und Investitionen von Ausländern zuließ, die dann auch Personal anheuern durften, fand China nach Jahrhunderten der Stagnation einen neuen Kurs. Der spektakuläre Erfolg dieses Modells brachte die Volksrepublik dazu, Marktwirtschaft auch anderswo zuzulassen.

Wer soll in einer Charter City Beamtengehälter zahlen?
Der Wert von städtischem Grund und Boden wäre eine Einnahmequelle. Wenn der Stadtverwaltung anfangs ungenutztes Land gehört, wird der Wertzuwachs im Lauf der Zeit enorm sein. Die Stadtverwaltung stellt öffentliche Güter bereit, also ist es nur richtig, so Mittel zu generieren. Hong Kong und Singapur nutzen diese Methode. Land kann verpachtet und verkauft werden, und Land – nicht die privat finanzierten Gebäude, die darauf stehen – kann besteuert werden.

Was ist mit den Infrasturkturkosten?
Der Privatsektor kann langfristige Infrastruktur finanzieren. Eine Firma würde beispielsweise den Flughafen bauen und dann Landegebühren verlangen. Unternehmen akzeptieren die Risiken, die mit solchen Investitionen verbunden sind. Aber sie akzeptieren keine politischen Risiken, also dass künftige Regierungen Verträge brechen und das Geschäftsmodell durchkreuzen könnten. Starke und glaubwürdige Institutionen sind nötig, um politische Risiken zu begrenzen und entsprechend Kapital zu mobilisieren. Heute investieren Privatanleger und Sovereign Wealth Funds vor allem in die Infrastruktur reicher Länder. Anderswo ist ihnen das politische Risiko zu groß.

In Sonderwirtschaftszonen schuften Menschen für Hungerlöhne. Wollen wir das?
Das müssen Sie die Menschen fragen, die in Städte wie Shenzhen ziehen. Charter Cities sollten nach meiner Vorstellung viele Billigjobs schaffen, vor allem in der Textil- und Leichtindustrie. Diese Jobs mögen Ihnen und mir schlecht erscheinen, doch arme Landbewohner, die in ihrem Dorf ums Überleben kämpfen, sehen die Dinge anders. Sie erkennen die Chance, dem informellen Sektor zu entkommen und obendrein Wissen und Fähigkeiten zu erwerben, die zu höheren Einkommen führen können. Und die Leute sollen auch nicht in gefährlichen Slumsiedlungen hausen. Menschenwürdiger, gut geplanter und günstiger Wohnraum mit angemessener Infrastruktur in Charter Cities wäre sicherlich vorzuziehen. In diesem Jahrhundert werden zusätzlich drei bis fünf Milliarden Menschen in Städte ziehen. Wenn Ballungsräume wie Lagos oder Mumbai nicht noch überfüllter und problematischer werden sollen, muss für Alternativen gesorgt werden.

Wer wird die Waren kaufen, die in Charter Cities produziert werden?
Zum großen Teil die Einwohner der Charter Cities selbst. Es geht ja darum, dass sie an der Weltwirtschaft teilhaben können und nicht nur am Rand ein kümmerliches Dasein fristen.

Wären die neuen Städte denn ökologisch nachhaltig?
Ländliche Armut, die zur Entwaldung führt, ist auch umweltschädlich. Und der ökologische Fußabdruck gut geplanter, dicht besiedeltet Städte ist recht klein. Man könnte erneuerbare Energiequellen nutzen und für kurze Wege sorgen.

Welche Rolle hätten die Geberländer?
Wenn die Regierung eines Entwicklungslandes eine Charter City plant, hakt es wahrscheinlich an der Glaubwürdigkeit. Investoren würden das politische Risiko scheuen. Um einer solchen Stadt Rechtssicherheit zu geben, sollte die Regierung eines reichen, politisch stabilen Landes also die Einhaltung der Regeln garantieren. Es geht nicht um Geld, die Stadt würde sich selbst finanzieren. Es kommt aber darauf an, den Ordnungsrahmen auf Dauer zu sichern.

Warum sollten sich Geber verpflichten, irgendwo in einem Entwicklungsland Regeleinhaltung zu garantieren? Das wirkt wie Neo-Kolonialismus.
Viele Regierungen versuchen heute schon, im fernen Ausland Regeln durchzusetzen. Denken Sie an Afghanistan oder Haiti. Manchen betroffenen Menschen passt das nicht. Brasilianische Sicherheitskräfte spielen in Haiti eine wichtige Rolle, und vor dem Erdbeben forderten manche Haitianer, sie sollten abziehen. Wäre es nicht leichter, eine Stadt in Brasilien zu gründen und den Haitianern, die das wollen, zu erlauben, dorthin zu ziehen? Deutschland oder die Niederlande könnten Brasilien dabei unterstützten, eine neue Stadt für verzweifelte Menschen aus aller Welt aufzubauen. Ihre eigenen Migrationsprobleme würden gelindert, und der Problemdruck in Haiti auch. Nur Länder, die solche Städte wollen, würden sie gründen. Und nur Menschen, die dort leben wollen, würden hinziehen. Freiwilligkeit ist wichtig.

Gibt es irgendwo in der Welt konkrete Pläne für eine Charter City?
Marc Ravalomanana, der Ex-Präsident von Madagaskar, fand die Idee gut. Er bat mich, reiche Staaten als Bürgen zu finden. Leider wurde er gestürzt, bevor das Projekt vorankam. Ich führe weiterhin leise Gespräche in Entwicklungsländern. Die Verantwortlichen dort wissen, dass wir neue Dinge ausprobieren müssen.

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Um die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung zu erreichen, ist gute Regierungsführung nötig – von der lokalen bis zur globalen Ebene.