Gesundheit
„Stiller Mord“
Als „lebenswichtige Medikamente“ definiert die Weltgesundheitsorganisation diejenigen, welche die wichtigsten Gesundheitsbedürfnisse der Menschen erfüllen. Die WHO-Liste dieser Medikamente umfasst momentan 340 Arzneien. Das Problem dabei: Diese Medikamente sind nicht allen Bedürftigen zugänglich. Daisy Isa aus Nigeria erklärt, dass Menschen in Afrika, Südostasien und im Westpazifik zu 60 Prozent aller lebenswichtigen Pharmazeutika keinen Zugriff haben. Isa arbeitet bei CHAN Medi-Pharm, einem ökumenischen Medikamentenhilfswerk in Nigeria. Sie nennt zwei Gründe für die Engpässe:
- Oft werden nur Arzneien wie Schmerzmittel in den Entwicklungsländern hergestellt, während Heilmittel für lebensgefährliche Krankheiten wie TB oder HIV/Aids importiert werden und daher wesentlich teurer sind.
- Die Versorgungsketten sind in Entwicklungsländern oft schwach, daher kommt es zu Knappheiten und Produktminderung, zum Beispiel wenn Impfstoffe zu warm oder zu kühl aufbewahrt werden.
Lagerungs- und Verteilungsprobleme hängen dabei natürlich generell mit schlechter Infrastruktur zusammen.
Tödliche Medizin
Weil sich Menschen mit durchschnittlichem Einkommen in Entwicklungsländern gute Medikamente oft nicht leisten können, nehmen sie günstigere Angebote an – zum Beispiel gefälschte Arzneien. Das ist jedoch gefährlich, weil diese Medikamente meistens ineffektiv sind und oftmals sogar giftig. Hiiti Sillo, Generaldirektor der Tanzania Food and Drugs Authority, sagt in aller Klarheit: „Gefälschte Medizin ist wie stiller Mord.“
Nachgemachte Pharmazeutika werden oft genau wie Originalmedikamente verpackt, so dass es für Apotheker sehr schwierig ist, den Unterschied zu erkennen. Sillo weist darauf hin, dass es in vielen afrikanischen Ländern nicht genügend Kontroll-Labore gibt. Die Pharmagesetzgebung sei oft nicht ausreichend und die Strafverfolgung zu schwach. Medikamentenschmuggel sei weit verbreitet. Um Medikamentenfälschung zu unterbinden, ist laut Sillo „Zusammenarbeit auf regionalem, nationalem und internationalem Level notwendig“.
Lokale Herstellung von Generika könnte das Problem beheben. Generika sind chemisch mit Markenmedikamenten identisch, aber sie werden nicht von multinationalen Pharmariesen produziert. Sie sind wesentlich billiger als Markenprodukte, aber genauso gut.
Sobald ein pharmazeutisches Patent ausläuft, ist die Produktion von Generika überall erlaubt. Laut einer Regel der Welthandelsorganisation (WTO) gelten obendrein die pharmazeutischen Patente bis 2016 nicht in den am wenigsten entwickelten Ländern. Eine weitere WTO-Regel erlaubt es allen nationalen Regierungen, Kopien patentgeschützter Medizin produzieren zu lassen, wenn das für die öffentliche Gesundheitsversorgung notwendig ist.
Die deutsche zivilgesellschaftliche Organisation action medeor sorgt für Not- und Katastrophenhilfe, trägt aber auch dazu bei, die Medikamentenversorgung in Entwicklungsländern zu verbessern. Auf einer Konferenz von action medeor in Bonn im Februar erklärten die Experten, dass Pharmaproduzenten in Entwicklungsländern vor mehreren Herausforderungen stehen, darunter:
- Mangel an qualifiziertem Personal, vor allem pharmazeutischen Labortechnikern,
- Fehlen der Basis-Infrastruktur einschließlich verlässlicher Wasser- und Stromversorgung,
- fehlende staatliche Regulierung der medizinischen Qualitätskontrolle,
- beschränkter Zugang zu aktiven pharmazeutischen Wirkstoffen, auf denen Arzneien beruhen,
- beschränkter Zugang zu anderen relevanten Bestandteilen wie Wirkstoffträgern und Reagenzien (Chemikalien, die notwendig sind, um die Qualität eines Medikamentes zu testen),
- fehlende Finanzmittel und beschränkter Zugang zu Krediten sowie
- schwache Vertriebsnetze.
Wenn die Herstellung pharmazeutischer Generika einmal begonnen hat, verbessert sich der Medikamentennachschub in Entwicklungsländern in der Regel schnell. Die starke Generika-Industrie in Indien und Brasilien versorgt mittlerweile viele Entwicklungsländer mit kostengünstigen Versionen von Markenmedikamenten.
Alle Länder, die dies nachmachen möchten, müssen allerdings Fachleute dafür ausbilden. Augenblicklich, sagt Eliangiringa Kaale von der Pharmazie-Fakultät der Mhuimbili-Universität in Dar es Salaam, gebe es nur zwei Optionen: „Wir können entweder Fachleute importieren, zum Beispiel aus Indien, oder – wenn ein Labor sich dies nicht leisten kann – Medikamente herstellen, unter dem Risiko, die entsprechenden Qualitätsstandards nicht einhalten zu können.“ Pharmazeutische Labors in Afrika weichen oft auf die zweite Lösung aus, was sich jedoch negativ auf die Gesundheit der betroffenen Patienten auswirkt.
Trotz dieser Herausforderungen unterstützt action medeor die lokale Herstellung von Generika, unter der Voraussetzung, dass Qualitätskontrolle garantiert ist. „Die Hersteller vor Ort haben ein langfristiges Interesse daran, den lokalen Markt zu entwickeln und auszubauen“, sagt Bernd Pastors, Vorstandssprecher der Organisation.
Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und seine Durchführungsorganisationen unterstützen ebenfalls lokale Unternehmen darin, lebenswichtige Medikamente von hoher Qualität herzustellen. Man wolle einen „Knotenpunkt herausragender Leistung“ in Ostafrika entwickeln, erläutert Frank Schmiedchen vom BMZ. Er betont, dass sein Ministerium nicht nur am Transfer von Know-how und Technologie interessiert sei, sondern ebenso sehr an der Verbesserung der rechtlichen Rahmenbedingungen.
Die WHO unterstützt ebenfalls diese Doppelstrategie. Sie will einerseits den Technologietransfer für die Herstellung von Generika beschleunigen und andererseits die pharmazeutische Gesetzgebung verbessern.
„Auch arme Leute verdienen Medikamente von guter Qualität“, sagt Lembit Rägo von der WHO. Er betont, dass gute Arzneien nicht nur notwendig seien im Kampf gegen Malaria und andere tropische Krankheiten; man brauche sie für alle möglichen Krankheiten. Seinen Informationen zufolge haben 70 Prozent aller Patienten mit mentalen Störungen in armen Ländern keinen Zugang zur notwendigen Medizin. Die Herstellung von günstigen Medikamenten ist dringend erforderlich – für Körper und Seele.
Sheila Mysorekar