Vergangenheitsbewältigung

Koloniale Schatten

Die Geschichte brutaler Massenmorde belastet nach wie vor die deutsch-namibischen Beziehungen. Doch das Land der Täter tut sich schwer mit einem umfassenden Schuldeingeständnis. Vielleicht scheut die Bundesregierung auch vor einem Präzedenzfall zurück – denn die Bereitschaft, Schadensersatz zu leisten, würde andere ehemalige Kolonialmächte erheblich unter Druck setzen.
Hereros commemorate victims of colonial violence in 2007 Frans Lemmens/Lineair Hereros commemorate victims of colonial violence in 2007

Damit Zukunftsdenken möglich ist, muss die Vergangenheit aufgearbeitet werden.  Deutschland hatte mit seiner traumatischen Geschichte im 20. Jahrhunderts viel Aufarbeitungsarbeit zu leisten. Es stellt sich jedoch bis heute nicht ausreichend seiner Verantwortung in der deutschen Kolonialzeit, sondern beschränkt sich vor allem auf die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, dem Holocaust und dem 2. Weltkrieg.

Der Krieg der deutschen Kolonialarmee, der so genannten „kaiserlichen Schutztruppen“ im damaligen Südwestafrika, ist in Deutschland weitgehend vergessen. Der deutsche Kolonialismus wird eher als Nebenaspekt der imperialistischen Ausbreitung Europas auf den Rest der Welt gesehen.

Für die Nachfahren der Opfer in Namibia stellen sich die Dinge aber ganz anders dar. Ihnen ist beispielsweise noch bewusst, dass Kaiser Wilhelm in ­seiner berüchtigten „Hunnenrede“ Soldaten zur Vernichtung von Aufständischen in China aufforderte. Der Wortlaut dokumentiert den gewalttätigen Charakter jener Epoche, die keinesfalls eine „gute alte Zeit“ war.

In der Siedlerkolonie Deutsch-Südwestafrika eskalierte die Konfrontation mit den Kolonisierten zwischen 1904 und 1907 in Massenvernichtung. Laut einem UN-Bericht erfüllte das militärische Handeln die Kriterien des Völkermords. Zehntausende Herero, Nama, Damara und Buschleute bezahlten das Beharren auf ihrer Lebensweise mit dem Tod oder der Vernichtung ihrer Existenzgrundlage. In „Deutsch-Ostafrika“ – dem heutigen Tansania – resultierte kurz danach eine Politik der verbrannten Erde in noch höheren Opferzahlen. Dort wurden die Gräueltaten überwiegend vom Söldnerheer der Askari verübt.

Namibia erlangte 1990 nach jahrzehntelangem Befreiungskampf die völkerrechtliche Souveränität. Die deutsch-namibischen Beziehungen stehen weiterhin im Schatten der Kolonialgeschichte. Noch immer prägt jene Epoche die Gegenwart Namibias. Die Spuren zeigen sich nicht nur in architektonischen Überbleibseln, sondern mehr noch in dem wirtschaftlichen und kulturellen Einfluss der weiterhin im Lande lebenden deutschsprachigen Minderheit.  

Dass es zwischenzeitlich zwei Deutschlands gab, macht die Dinge nicht leichter. Die DDR war der antikolonialen Befreiungsbewegung und heutigen Regierungspartei SWAPO freundschaftlich verbunden, wurde aber fast zeitgleich mit der Unabhängigkeit Namibias als Staat aufgelöst. Für die SWAPO ist seither die Bundesrepublik der einzige Ansprechpartner. Dass dieser Staat stets darauf beharrte, als einzig legitime Instanz Deutschland zu repräsentieren, prädestiniert ihn zudem als Akteur, der sich der Kolonialgeschichte stellen muss.


„Besondere ­historische Verantwortung“

Zur Unabhängigkeit Namibias betonte der Bundestag eine „besondere historische Verantwortung“ für die einstige Kolonie. Dies wurde seither mehrfach bekräftigt und resultierte in hohen Zuwendungen der Entwicklungszusammenarbeit. Solche Zahlungen werden in Deutschland als Kompensationsleistung für die Vergangenheit verstanden. Bislang scheute aber noch jede Bundesregierung davor zurück, den Begriff des Völkermords für die damaligen Ereignisse zu akzeptieren. Dabei geht es auch um Geld, obwohl finanzielle Entschädigungen – zumal verglichen mit Euro-Rettungs-Aktionen – eher Kleingeld wären. Doch selbst das sitzt nicht locker. Jedes Schuldeingeständnis zöge aber  Zahlungsverpflichtungen nach sich, was bisher konsequent vermieden wurde.

Vielleicht will die Bundesregierung auch keinen Präzedenzfall schaffen. Ähnliche Probleme haben nämlich auch die britischen, französischen, niederländischen, portugiesischen, spanischen, belgischen und italienischen Regierungen. Wenn erstmals koloniales Unrecht jenseits von Entschuldigungen kompensationsfähig wird, werden viele ähnlich gelagerte Fälle akut werden. Genau besehen, gilt das auch für die USA, Kanada, Aus­tralien und andere ehemalige Siedlerkolonien. Auch sie müssten damit rechnen, dass die indigene Bevölkerung Widergutmachungsansprüche nach Völkermorden erhebt.

Folglich bleibt für die Nachfahren der Opfer der Gräueltaten in Namibia das ­entscheidende Schuldbekenntnis aus. Deutschland ist für das Land zwar der wichtigste Geber von Entwicklungsmitteln, bleibt aber dennoch recht unbeliebt. Die heutige Generation der vom Genozid betroffenen Bevölkerungsgruppen sieht in den Entwicklungszuwendungen eben nur einen unzureichenden Versuch der Wiedergutmachung, der allenfalls die zwischenstaatlichen Beziehungen betrifft.

Relevant ist, dass die Nachfahren der damals verfolgten Bevölkerungsgruppen heute in der namibischen Regierung unterrepräsentiert sind. Die Herero, Nama und Damara, die um die Anerkennung ihrer Ansprüche ringen, haben nur geringen Einfluss. Seit einiger Zeit äußern sich staatliche Stellen in Namibia aber vermehrt in ihrem Sinne.

Deutschland fällt es schwer, die Vergangenheit aufzuarbeiten. 2011 kam es zu einer ersten Rückgabe von Schädeln. Sie waren nach 1904 in rassistischem Größenwahn deutschen Forschungseinrichtungen zu Studienzwecken gegeben worden und wurden seither dort gelagert. Die feierliche Rückgabezeremonie in Berlin endete aber im Eklat.

Die namibische Delegation wurde von Kultur- und Jugendminister Kazenambo Kazenambo geleitet, der zu einer der seinerzeit verfolgten Volksgruppen gehört. Er empfand es als Affront, dass die Bundesregierung von Cornelia Pieper, der Staatsministerin im Auswärtigen Amt, und nicht von einem ihm gleichrangigen Kabinettsmitglied vertreten wurde. Dass sie zudem den Saal nach kritischen Zwischenrufen aus dem Publikum vorzeitig verließ, sorgte für zusätzliche Verstimmung.

Es liegen noch zahlreiche weitere Schädel in den Asservatenkammern der Berliner Charité und der Unis Freiburg und Greifswald – und möglicherweise auch noch in anderen Städten. Für künftige Übergaberituale wird die Anerkennung des Völkermords wichtig sein. Sie ist die Voraussetzung für echte Vergangenheitsbewältigung und bessere deutsch-namibische Beziehungen.

Am 22. März 2012 – unmittelbar nach dem 22. Jahrestag der Unabhängigkeit Namibias – thematisierte der Bundestag einmal mehr die deutsch-namibische Vergangenheit. Über zwei Anträge, gestellt von SPD und Grünen einerseits und von den Linken, wurde aber nur eine halbe Stunde lang debattiert. Das Interesse an der immer wieder gern beschworenen „besondern historischen Verantwortung“ bleibt eben doch recht gering.

Die Regierungsmehrheit lehnte alle Oppositionsvorschläge ab. Positiv war, dass SPD und Grüne in ihrem Gemeinschaftsantrag weiter gingen, als das ihre rot-grüne Regierung in den Jahren 1998 bis 2005 jemals tat. Enttäuschend war aber, dass sich die Oppositionsparteien trotz inhaltlich weitgehender Übereinstimmung nicht auf eine gemeinsame Position einigten. Die Linken beharrten auf einer Pflicht zur finanziellen Entschädigung. Positiv ist aber: Sollten sozialdemokratische oder grüne Politiker nach den Bundestagswahlen im Herbst wieder ins Kabinett einziehen, werden sie sich am Antrag von 2012 messen lassen müssen.

Geschichte erledigt sich auch mehr als ein Jahrhundert nach traumatischen Ereignissen nicht von allein. Das Thema wird nicht in einiger Zeit von selbst verschwinden. Erfreulicherweise gibt es inzwischen auch ein zivilgesellschaftliches Aktionsbündnis, das sich in Deutschland der Kolonialgeschichte in Afrika widmet. Davon zeugen auch erfolgreiche Kampagnen für die Umbenennung von Straßen, die zuvor die Namen von Kolonialverbrechern trugen. So heißt beispielsweise die ehemalige Von-Trotha-Straße in München jetzt Hererostraße, die frühere Wissmannstraße in Stuttgart-Stammheim ist nun die Wolle-Kriwanek-Strasse und aus dem alten Gröbenauufer in Berlin wurde das May-Ayim-Ufer.

Henning Melber
ist Direktor emeritus der Dag Hammarskjöld Stiftung in Uppsala und Extraordinary Professor der Universität Pretoria. Von 1994 bis 2000 war er Vorsitzender der Namibisch-Deutschen Stiftung für kulturelle Zusammenarbeit (NaDS) in Windhoek.
henning.melber@dhf.uu.se