Bürgerkriege
Flucht trotz Frieden
Die Bekämpfung von Fluchtursachen ist erklärtes Ziel der Entwicklungspolitik. Erfahrungsgemäß reicht ein formales Friedensabkommen aber nicht. Afghanistan, Nepal und El Salvador sind Beispiele dafür, dass Emigration noch lange andauert, obwohl offiziell Frieden herrscht.
Es ist zudem oft sehr schwer, zu unterscheiden, ob Menschen freiwillig oder gezwungenermaßen ihre Heimat verlassen. Es gibt viele Graustufen. Angst vor Gewalt ist ein Grund zur Flucht, selbst wenn niemand mit Schusswaffen droht. Das bloße Wissen, dass Personen, die Menschenrechte verletzt haben, frei herumlaufen, kann Menschen zur Abwanderung motivieren. Auch wer keine Erwerbsmöglichkeiten findet, um sich und die Familie zu ernähren, hat Gründe zur Migration. Tatsächlich spielen bei der Entscheidung, zu gehen oder zu bleiben, meist mehrere Faktoren eine Rolle.
Felix Haaß, Sabine Kurtenbach und Julia Strasheim vom German Institute of Global and Area Studies (GIGA) in Hamburg beschäftigen sich in einem aktuellen Papier mit diesen Fragen. Sie betonen, Frieden sei mehr als die Abwesenheit von Krieg. Soziale Gräben müssten überbrückt werden, aber typischerweise dominierten fest etablierte Eliten das neue politische System. Ehemalige Kämpfer und Jugendliche fänden meist keine guten Arbeitsplätze. Folglich halte die Abwanderung nicht nur an, sondern könne sogar insofern nützlich sein, als sie neue Gewalt weniger wahrscheinlich mache. Dieses Szenario gebe es in vielen Post-Konflikt-Ländern, die von Geberinstitutionen umfangreiche Unterstützung erhielten.
Den Autoren zufolge ist militärische Gewalt in Bürgerkriegen nicht die einzige relevante Art von Gewalt. Nach einem Waffenstillstands- oder sogar einem Friedensabkommen hielten die anderen Formen häufig kaum vermindert an. Dabei gehe es um Mord, Folter, Vergewaltigung und Raub. Ehemalige Milizen, informelle Banden, aber auch rivalisierende Sippen könnten beteiligt sein. Der Wunsch, Rache zu üben, spiele auch eine Rolle. Den Wissenschaftlern zufolge herrscht in vielen Ländern weder Krieg noch Frieden.
Grundsätzlich wird erwartet, dass nach einem Bürgerkrieg Institutionen geschaffen werden, die allen Bürgern politische Teilhabe gewähren. In der Praxis sei das aber nicht selbstverständlich, warnt das GIGA-Team. Wer sich ausgegrenzt sehe, wandere häufig ab. Selbst wenn ein Land nicht in Krieg zurückfalle, blieben alte Kräfte oft einflussreich und prägten die Gesellschaft weiterhin. Wo dagegen echte Partizipationsmöglichkeiten entstünden, gehe die Emigration zurück.
Das Rechtssystem ist auch wichtig. Laut GIGA-Publikation bleiben Menschenrechtsverletzer oft einflussreich, wenn sie nicht vor Gericht gestellt und bestraft werden. Diejenigen, die im Krieg unter ihnen leiden mussten, fänden es oft unerträglich, in denselben Stadtvierteln wie die Verbrecher zu leben. Die Taten juristisch aufzuarbeiten erfordere immer Zeit – und solange das nicht geschehe, bleibe der Frieden unvollständig.
Die Botschaft der Autoren ist, dass es nicht reicht, die unmittelbaren Konfliktfolgen zu beheben und die Eliten zufriedenzustellen, sondern dass Geberinstitutionen darauf achten müssen, dass die breite Bevölkerung vom Frieden profitiert. Wenn die wirklichen Fluchtursachen nicht angegangen würden, obwohl in erheblichem Maße Hilfsgelder flössen, gehe die Emigration auch nach förmlichem Friedensschluss weiter.
Hans Dembowski
Link
GIGA-Studie: Flucht vor dem Frieden, Emigration aus Nachkriegsgesellschaften.
https://www.giga-hamburg.de/de/publikation/flucht-vor-dem-frieden-emigration-aus-nachkriegsgesellschaften