Post-2015-Debatte

Solide Basis

In der Debatte darüber, wie die MDGs und der Rio-Prozess weitergeführt werden sollen, zeichneten sich im Sommer 2013 noch keine klaren, quantifizierten Indikatoren ab. Dirk ­Messner vom Deutschen Institut für Entwicklungspolitik besprach seinerzeit im Interview mit Hans Dembowski Defizite des interantionalen Diskussionsprozesses, urteilte aber, die Richtung stimme.
Es ist mehr in soziale Bereiche investiert worden: Impfung in Liberia. Shezad Noorani/Lineair Es ist mehr in soziale Bereiche investiert worden: Impfung in Liberia.

Die MDGs werden nur zum Teil erreicht – und kausale Zusammenhänge zwischen der MDG-Agenda und den Ergebnissen sind nicht klar. Was haben die MDGs konkret bewirkt?
Es stimmt, dass sich Entwicklungserfolge mit wissenschaftlichen Methoden nicht kausal auf die MDGs zurückführen lassen. Aber es lässt sich jedenfalls plausibel argumentieren, dass die Ausrichtung des internationalen Dialogs und der internationalen Entwicklungszusammenarbeit dazu beigetragen hat, dass die einschlägigen Themen von vielen Regierungen, aber auch internationalen Organisationen ernst genommen wurden, und dass entsprechend auch etwas passiert ist. Es gibt zum Beispiel DIE-Studien über die Auswirkungen der Budgethilfe, mit denen Geberinstitutionen die Hauhalte von Regierungen und einzelnen Ministerien unterstützen. Sie zeigen, dass mehr in soziale Bereiche wie Bildung und Gesundheit investiert wurde.

Ist deshalb die Fortschreibung des letztlich unverbindlichen MDG-Wunschzettels nötig?
Im Kern geht es darum, sich auf globale Entwicklungsprioritäten für die kommenden zwei Dekaden zu verständigen. Darum kreist die Diskussion zurzeit. Bisher wird aber eher über die Fortschreibung der Millennium Declaration geredet, die Grundprinzipien der künftigen Entwicklung definierte, und nicht über die Folgeagenda für die MDGs, die auf der Basis der Millennium Declaration konkrete Indikatoren benannten. Die Stärke des MDG-Katalogs war seine Klarheit, seine leichte Verständlichkeit. Sein Charme war, dass sich das leicht merken und politisch kommunizieren ließ.

Und dahinter verbarg sich ein unausgesprochenes Programm, das auf die Stärkung des Bildungs- und Gesundheitswesens in Entwicklungsländern hinauslief. Was das High-Level-Panel – kurz HLP – für die Zeit nach 2015 vorschlägt, ist aber viel abstrakter und  nicht quantifiziert.
Ja, und das muss auch so sein, weil die Diskussion eben noch nicht so weit ist, konkrete Zielindikatoren zu definieren. Der HLP-Bericht bietet aber eine gute Grundlage, um dorthin zu kommen. Und das gilt auch für den Bericht, den das Sustainable Development Solutions Network – kurz SDSN – im Juni im Auftrag von UN Generalsekretär Ban Ki-moon veröffentlicht hat. Das SDSN, dessen Mitglied das DIE ist, gehört zu dem Prozess, der zu multilateralen Sustainable Development Goals führen soll. Zum Glück sind beide Berichte wirklich vielversprechend.

In welcher Hinsicht?  
Es ist zum Beispiel ausgesprochen positiv, dass beide davon ausgehen, dass getrennte Agenden für nachhaltige Entwicklung und für Armutsbekämpfung nicht sinnvoll sind. Wenn sich schon im Vorfeld Konsens darüber abzeichnet, dass es nur eine geschlossene Weltagenda geben soll, wächst die Chance, dass es auch wirklich so kommt. Es ist jetzt sehr unwahrscheinlich, dass die beiden Stränge nicht zusammengeführt werden.

Aber gibt es nicht Trade-offs zwischen Armutsbekämpfung und Umweltschutz? Ohne Kunstdünger lässt sich beispielsweise die Agrarproduktivität nicht so schnell steigern, was niedrigere Einkommen von Bauern bedeutet.
Solche Zusammenhänge gibt es, und im Einzelfall muss immer geprüft werden, wie sich ein bestimmtes politisches Programm auswirkt und wer die Folgen zu spüren bekommt. Das ist klar. Es ist aber ebenso eindeutig, dass nicht-nachhaltige Wirtschaftsweisen mittelfristig Armutsprobleme nur weiter verschärfen, weil sie unsere Lebensgrundlagen unterhöhlen. Wir wissen, dass die ärmsten und wehrlosesten Bevölkerungsgruppen darunter immer am meisten zu leiden haben. Klimaverträgliche, ressourceneffieziente und erdsystemkompatible Entwicklung ist zugleich präventive Armutspolitik. Das hat die Forschung oft gezeigt – und das steht nun in den Berichten von HLP und SDSN. Wir haben nicht die Wahl zwischen Armutsbekämpfung und Umweltschutz. Wir brauchen beides.

Was ist am HLP-Bericht noch vielversprechend?
Er benennt die Probleme, vor denen die Menschheit steht, und die fünf Leitlinien, die das Panel vorschlägt, sind stimmig ...

... dabei geht es erstens um die grundsätzliche Gleichheit aller Menschen, zweitens um ökologische Nachhaltigkeit, drittens um sozial inklusive Ökonomien, viertens um Frieden und verlässliche Institutionen sowie fünftens um multilaterale Kooperation im Sinne der ersten vier Leitlinien.
Genau, und das weist alles in die richtige Richtung. Ich finde besonders wichtig, dass eine globale Agenda gefordert wird, die alle Nationen und nicht nur die Entwicklungsländer betrifft. Damit können wir arbeiten. Die Schwellen- und Entwicklungsländer werden nicht mehr akzeptieren, dass sie Ziele zu erfüllen haben, die OECD-Länder jedoch nicht – und gerade die OECD- und die Schwellenländer müssen ökologisch viel tun. Die zehn Punkte, die der SDSN-Bericht hervorhebt, sind auch ohne weiteres mit den Panel-Vorschlägen kompatibel. Das ist sehr gut, denn es zeigt, dass es so etwas wie einen internationalen Konsens darüber gibt, wo wir stehen und was die Prioritäten der künftigen Entwicklung sein müssen.

Aber das ist nicht viel wert, wenn die multilaterale Politik nicht entsprechend agiert. Es sieht aber nicht so aus, als bekämen wir beipsielsweise ein Klimaabkommen, das den Treibhauseffekt wirklich auf einen Temperaturanstieg um zwei Grad im Schnitt beschränkt. Wir brauchen Regeln mit Biss, nicht schöne Worte.
Selbstverständlich brauchen wir verbindliche Abkommen, und ich hoffe, dass sie auch zustande kommen. Multilaterale Politik läuft aber auf vielen Ebenen, und es ist sinnvoll, auch auf der Ebene zu agieren, die unterhalb völkerrechtlich verbindlicher Verträge liegt. Auch so  lässt sich Druck machen. Viele Regierungen, etwa in den Schwellenländern, aber auch in den USA, scheuen aus verschiedenen Gründen vor strikten Regeln zurück. Sie lassen sich eher auf unverbindliche Ziele ein, deren Erreichung dann aber auch in Monitoring-Verfahren gemessen werden kann, was wiederum Raum für „naming, blaming and shaming“ bietet. Es gibt harte und weiche Abkommen, und letztere sind nicht wertlos.

Aber sie reichen nicht.
Nein, natürlich nicht. Sie schaffen jedoch Legitimationsdruck, weil sie die internationale Debatte in eine bestimmte Richtung lenken. Das trägt hoffentlich dazu bei, dass auch die nötigen verbindlichen Abkommen rechtzeitig zustande kommen. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass ökologische Nachhaltigkeit auf einen Schlag in einem Abkommen erreicht wird. Es geht um einen komplexen Wandel, und der findet auf vielen Feldern statt und wird auf vielfältige Weise eingeleitet. Weltweit haben sich bereits 20 bis 30 Länder das Ziel gesetzt, ihre Volkswirtschaften in den kommenden Jahrzehnten CO2-frei zu machen. Wenn sie zu Erfolgsbeispielen werden und zeigen, dass Dekarbonisierung mit Jobs und Produktivität einhergeht, setzen sie alle die, die jetzt noch zögern, unter gewaltigen Druck

Welche Schwächen hat der HLP-Bericht?
Ich sehe vier Defizite:

  • Dem Bericht fehlt eine kurze, leicht kommunizierbare Botschaft. Im Kern skizziert er eine umfassende Strategie, die menschliche Entwicklung mit nachhaltiger Entwicklung verbindet. Das ist notwendig, aber eben auch relativ abstrakt. Wie ich schon sagte, ist die internationale Debatte noch nicht so weit, dass wir bereits eine griffige Agenda wie die MDGs hätten.
  • Der Bericht geht praktisch gar nicht auf die Bedeutung der Emerging Markets und Rising Powers ein. Die Welt hat sich seit der Millenniumserklärung aber radikal verändert. China, Indien, Brasilien und andere Länder haben kräftiges Wirtschaftswachstum erlebt und sind politisch einflussreicher geworden. Ihre wachsenden Mittelschichten bedeuten zugleich mehr ökologisch problematischen Konsum. Diese Länder sind sehr heterogen und regional fragmentiert. Es gibt Zentren des Fortschritts, aber auch noch sehr rückständige Gegenden und jedenfalls sehr viele, sehr arme Menschen. Dennoch tragen die Regierungen heute eine globale Verantwortung, die sich im Jahr 2000 in diesem Maße noch nicht abzeichnete und die irgendwann auch benannt werden muss. Der HLP-Bericht tut das nicht, vermutlich weil es zu diesem Thema keinen Konsens gab.
  • Der Bericht argumentiert fast nur auf der nationalstaatlichen Ebene. Er umreißt, was dort geschehen kann und muss. Er fordert zwar eine neue globale Partnerschaft, nimmt aber zu Global Public Goods praktisch nicht Stellung. Es wäre aber gut, Ziele zu definieren, die sich beispielsweise auf die Verhinderung von Steuerflucht, den Schutz der Ozeane vor Übersauerung oder den Umbau des Weltenergiesystems in Richtung Erneuerbare Energie und Energieeffizient beziehen. Das sind Dinge, die Nationalstaaten allein überfordern, sodass multilaterales Engagement inklusive aller internationalen Organisationen nötig sind. Alle relevanten Akteure müssen Verantwortung für diese Gemeinschaftsgüter übernehmen, und um Druck zu erzeugen, wären Ziele gut.
  • Im Bericht steht nichts über Finanzierung.


Im September nimmt die UN Generalversammlung den Ball auf und 2015 soll sie dann eine neue Agenda beschließen. Wird sie die Defizite beheben oder die Agenda verwässern?
Das werden wir sehen. Es sind verschiedene Verhandlungsstrategien denkbar. Regierungen, die eigentlich nicht agieren wollen, dürften versuchen, die Agenda möglichst breit und allgemein zu halten, weil das zwar gut klingt, aber wenig Verbindliches bewirkt. Regierungen, die den Prozess vorantreiben wollen, dürften dagegen sagen: „Der Rahmen stimmt, nun lasst uns klare Kernfunktionen benennen, für die quantifizierbare Indikatoren möglich sind.“

Was könnten das für Kernfunktionen sein?
Aus meiner Sicht sind drei übergeordnete Aspekte relevant, die sich auch kommunizieren ließen:

  • Ausrottung der Armut: Die beiden vorliegenden Berichte fordern, dass die absolute Armut bis 2030 weitgehend eliminiert wird. Völlig gelingen wird das vermutlich nie, aber eine Zahl von höchstens 250 Millionen armen Menschen ist erreichbar und muss angestrebt werden.
  • Dekarbonisierung und radikale Senkung des Ressourcenverbrauches: Wohlstand muss letztlich ohne den Ausstoß von Treibhausgasen und mit erheblich reduziertem Ressourcenverbrauche erzielt werden, und die Abkopplung lässt sich messen.
  • Ein Wohlfahrtskonzept für das 21. Jahrundert: Wir brauchen ein neues Verständnis von Wohlfahrt, das der gesamten Menschheit gerecht wird, die Grenzen unseres Planeten berücksichtigt und deutlich macht, dass Wohlstand über materiellen Reichtum hinausgeht. Dafür sollten gute Kennzahlen gefunden werden.


Was ist dabei das eigentliche Problem, Armut oder Ungleichheit?
Die Frage ist falsch formuliert, weil beide riesige Probleme sind. Heutzutage leben rund eine Milliarde Menschen mit der Kaufkraft von weniger als einem Dollar am Tag, und weitere zwei Milliarden müssen mit bis zu zwei Dollar auskommen. Das zu ändern, ist eine gewaltige Herausforderung. Aber Ungleichheit ist auch ein Problem, das sich auf verschiedene Art und Weise niederschlägt – von Ausgrenzung über Gewaltkriminalität, von politischer Instabilität bis hin zu Umweltzerstörung. Es gibt Studien darüber, wie sich Menschen ein gutes Leben vorstellen – und da geht es dann um angemessenen Konsum, aber auch Bildung und Gesundheit, politische Teilhabe, solide Institutionen, intakte Umwelt und gewaltfreien Alltag. Interessanterweise liegen die Länder, deren Gini-Koeffizient die relative Gleichheit ihrer Bürger belegt, bei den Indikatoren für diese Dinge in der Regel besser als Länder mit ausgeprägter Ungleichheit.

 

Dirk Messner ist Direktor des Deutschen Instituts für Entwicklungs­politik in Bonn.
directors@die-gdi.de